60 Jahre Deutschland 4-Deutschland, einig Vaterland
Deutschland, einig Vaterland
Von der Trennung bis zur friedlichen Wiedervereinigung
Im Kalten Krieg müssen die Deutschen ihre Einheit opfern, und sind bald getrennt durch einen Todesstreifen voller Minen und bewacht von Männern mit Schießbefehl. Das SED-Regime muss sein Volk einmauern, um es nicht zu verlieren, und zementiert die Grenze mit einer Mauer, ein ausgeklügeltes Spitzelsystem soll die Menschen kontrollieren. Am Ende aber wehren sich die Ostdeutschen - und schaffen die Wende. Denn irgendwann fällt jede Mauer, und es wächst zusammen, was zusammengehört.
Mauerbau
Sonntag, der 13. August 1961. Es ist ein Uhr Nachts, und überall an der Sektorengrenze in Berlin marschieren Trupps der Nationalen Volksarmee, der Grenztruppen, der kasernierten Volkspolizei und der Betriebskampf- gruppen der DDR auf. Insgesamt mehr als 15.000 Mann, bewaffnet mit Stacheldraht und schwerem Baugerät. Die Operation "Rose" ist in vollem Gang - die Abriegelung der Westsektoren vom Rest der Stadt, Mauerbau.
"Wunde" der DDR
Seit mehreren Jahren schon spielt die DDR-Führung um Walter Ulbricht mit der Sperrung von West-Berlin. Seit 1949 hat der die Grenze zur Bundesrepublik Stück für Stück befestigen lassen: zwischen Bayerischem Wald und Ostsee verlief ein breiter Grenzstreifen, gesichert von Wachtürmen, Selbstschussanlagen und Minen. Bewaffnete Einheiten mit Hunden patrouillieren Tag und Nacht, offiziell um den Realexistierenden Sozialismus gegen die Imperialisten zu verteidigen, eigentlich aber, um Menschen von der Flucht in den Westen abzuhalten. Dazu darf gerne auch ohne Vorwarnung geschossen werden. In Berlin aber kann sich jeder, der weg will, einfach in die U-Bahn setzen und in den Westen fahren.
Dieses Schlupfloch ist lebensbedrohlich für die DDR. Denn es sind hoch qualifizierte Arbeiter und Spezialisten, die "rübermachen", Menschen- material, dass die boomende Bundesrepublik gut gebrauchen kann, und das der DDR bitter abgeht. Das Land droht, auszubluten. Und so spricht Ulbricht bald von "einer offenen Wunde", die er so schnell wie möglich schließen will. Überhaupt sieht sich dieser Ulbricht gerne als Frontkämpfer in diesem kalten Krieg und im Aufbau des Sozialismus allgemein.
Denn Ulbricht weiß genau, dass seine Bevölkerung ihm nicht aus wirtschaftlichen Gründen von der Fahne geht. Die Menschen haben genug von der Unterdrückung und der Verfolgung durch die Staatssicherheit. Viele sind spätestens seit dem niedergeschossenen Volksaufstand von 1956 fertig mit dem Staat, der ein Arbeiterparadies sein will. Doch einen weicheren Kurs zu verfolgen und einen milden Sozialismus einzuführen liegt Ulbricht fern - schließlich hat er noch Lenin persönlich gekannt und mit Stalin verkehrt. "Der da hinten kann sich alles leisten", sagt er gerne in kleinem Kreis über die Tauwetter-Experimente des großen Bruders in Moskau, "ich aber sitze im Schützengraben. Welcher Soldat im Schützengraben zündet sich eine Zigarette an?"
Suche nach Alternativen
Deshalb die Mauerlösung. Mit der liegt Ulbricht fortan Kreml-Chef Chruschtschow in den Ohren. Entweder, so Ulbricht, werde die Grenze verrammelt, oder die DDR werde zusammenbrechen. Doch Chruschtschow zögert, der Plan, ein ganzes Volk einzusperren, entsetzt ihn, außerdem sorgt er sich um das Ansehen des Sozialismus in der Welt. Was wird der große Gegner auf der anderen Seite des Atlantiks sagen? Die USA gerieren sich ohnehin schon immer als Befreier der Welt, und angesichts einer sowjetischen Mauer in Berlin könnte die Welt ihnen sogar glauben. Die DDR preisgeben kann Chruschtschow jedoch auch nicht.
Also setzt er auf Konfrontation. Seit wenigen Monaten steht ein neuer, junger Präsident an der Spitze der Vereinigten Staaten - und der alte Haudegen Chruschtschow hält ihn, der Mann heißt übrigens John F. Kennedy, für einen Waschlappen. Deshalb arrangiert er ein einen Gipfel mit Kennedy. Dem unerfahrenen Mann, so sein Kalkül, könne er die Kontrolle über den Zugang nach West-Berlin schon abtrotzen. Damit wäre jeder Flüchtling in Berlin von der Bundesrepublik abgeschnitten, Ulbrichts "Wunde" ganz ohne Mauer geflickt.
Doch Chruschtschow hat Kennedy falsch eingeschätzt. Sollten die Sowjets den Zugang nach West-Berlin sperren, denn "werden wir uns von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen", so Kennedy. "Wir wollen keinen Krieg", droht Chruschtschow, "wenn Sie ihn uns aber aufzwingen, wird es einen geben." Aber Kennedy bleibt ruhig : "Es scheint einen kalten Winter zu geben in diesem Jahr." Am Ende erhält der Kreml-Chef nicht die erwünschten Zugeständnisse. Im Gegenteil, Kennedy weiß nun, woran er ist. "Solange der glaubt, ich habe keine Erfahrung und kein Rückgrat, werden wir mit ihm kein Stück weiterkommen", erklärt er später einem Journalisten. Kennedy beschließt ein gigantisches Aufrüstungsprogramm. Nun würde Chruschtschow Berlin nur mit einem Krieg gewinnen, den er nicht wollte.
Chruschtschow akzeptiert die Mauer
Damit sind alle Alternativen ausgeschöpft, und zähneknirschend akzeptiert der Kreml die Mauerlösung. Am 6. Juli tritt der Sowjetdiplomat Julij Kwizinski im Auftrag des Botschafters an Ulbricht heran. "Wir haben ein Ja aus Moskau!" Ulbricht hat nun, was er will - und verliert keine Zeit. Noch im Juli wird eine Gruppe aus NVA-Offizieren gebildet, die die Aktion planen sollen, unter allerstrengster Geheimhaltung. Niemand soll von der Geschichte erfahren, vor allem nicht die Verzweifelten, die mit dem Gedanken spielen, die DDR zu verlassen. Das Regime befürchtet eine Massenflucht.
In enger Abstimmung mit den sowjetischen Truppen entsteht sehr schnell der Plan für Operation "Rose". Auf Anregung Ulbrichts sollte alles an einem Sonntag über die Bühne gehen. Der SED-Chef rechnet damit, dass die Berliner im schönen Sommerwetter lieber einen Ausflug ins Grüne machen würden, als zu protestieren- das eiskalte Kalkül eines Diktators. Polizisten und Betriebskampfgruppen sollen die Grenzübergänge sperren, während dahinter die NVA das Entstehen des "antiimperialistischen Schutzwalls" gegen die eigene Bevölkerung schützen solle. Und damit auch alles reibungslos über die Bühne geht, betraut Ulbricht seinen besten Mann mit dem Mauerbau.
Der junge Erich Honecker ist Sekretär für Sicherheitsfragen, vor allem aber genießt er das Vertrauen des Diktators, weil er zu ihm gehalten hatte, als ihn das Politbüro während der Unruhen '56 hatte absetzen wollen. Der gebürtige Saarländer und Überzeugungstäter macht sich eifrig an die Arbeit. Vor allem müssen logistische Probleme gelöst werden - so kann die Planwirtschaft der DDR in so kurzer Zeit nicht genügend Stacheldraht bereitstellen. Also rafft Honecker im gesamten Ostblock jeden Millimeter des "Sperrmittels" zusammen, den er kriegen kann. Die werden kreuz und quer durch die DDR verschoben, bevor sie nach Berlin gelangen - schließlich sollen die Westmächte nicht mißtrauisch werden.
Der Plan läuft ohne Störung
Dabei wissen die längst Bescheid oder raten gut. Bereits am 6. August erhält der amerikanische Geheimdienst CIA einen heißen Tipp aus dem Umfeld des Politbüros. Demnach seien "drastische Maßnahmen" geplant, um den Flüchtlingsstrom zu stoppen. Auch die Franzosen erfahren von ihrem Top-Informanten, einem Zahnarzt, der hochrangige SED-Leute behandelt, früh von dem Plan. Verhindern können oder wollen sie ihn nicht. Einerseits haben die Verbündeten in Westberlin nicht genug Kräfte, um einen Mauerbau effektiv zu verhindern. Andererseits fürchtet man seinerseits einen Krieg. So konstatiert Kennedy später, die Mauer sei "keine sehr schöne Lösung, aber tausendmal besser als Krieg."
Also läuft der Plan der SED ganz ungestört. Ulbricht täuscht ganz vergnügt die Massen mit einem berühmt gewordenen Satz: "Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten." Währenddessen werden die Einsatztruppen für die Aktion im Großraum Berlin in aller Ruhe aufgestellt, Honecker bringt seine Männer in Stellung. Es ist der 12. August, ein Samstag - am folgenden Tag soll die Sektorengrenze in Berlin zementiert werden. Die Berliner ahnen nichts, weder die im Westen, noch die im Osten.
So sind auch alle völlig überrascht, als am nächsten Morgen sämtliche Grenzübergänge gesperrt und die Bauarbeiten an der Grenzsperre in vollem Gange sind. Es kommt zu dramatischen Szenen, fast an allen Übergängen. Die Volkspolizei berichtet von tumultartigen Vorkommnissen auf beiden Seiten der Grenze - die Berliner wollen sich nicht so einfach trennen lassen. Verzweifelte Menschen winken mit Taschentüchern nach "drüben", verabschieden sich von ihren Verwandten. An manchen Grenzübergängen versuchen westdeutsche Polizisten, die Menge unter Kontrolle zu bringen und greifen zum Schlagstock - die Berliner rufen ihnen zu: "Ihr schlagt gegen die falsche Seite!"
Verzweifelte Szenen an der Mauer
Überall versuchen Ost-Berliner, im letzten Moment doch noch in den Westen zu gelangen. An vielen Stellen liegen Häuser direkt an der Zonengrenze - das Haus steht in der DDR, die Straße liegt in der Bundesrepublik. Dort springen zu allem entschlossene Menschen aus dem Fenster aufs westdeutsche Pflaster, die West-Berliner bilden Trupps mit Sprungtüchern. An anderer Stelle springen die Menschen über die noch unfertigen Stacheldrahtverhaue - so wie der junge Grenzsoldat Conrad Schumann. Der Neunzehnjährige sollte eigentlich die Grenze schützen, nutzt jedoch einen unbeobachteten Moment und springt in voller Uniform über die Grenze in die Freiheit. Ein Westberliner schießt von dieser Flucht das wohl berühmteste Bild des Mauerbaus.
Bis zum Abend jedoch stehen die ersten, provisorischen Grenzbefestigungen, und die Situation beiderseits der Grenze ist unter Kontrolle. Die SED frohlockt, alles ist glänzend gelaufen, und auch die Westmächte scheinen sich mit der Situation abzufinden. Ulbricht, der Diktator, ist strahlender Laune - und hochzufrieden mit Honecker, der ab sofort sein heimlicher Kronprinz ist. Am nächsten Tag wird Kanzler Adenauer seine Westdeutschen zu Besonnenheit aufrufen. Die westdeutsche Führungsriege akzeptiert die Mauer als notwendiges Übel. Es gibt nur wenige Ausnahmen, wie zum Beispiel Willy Brandt, der Berliner Oberbürgermeister, der wutentbrannt den alliierten Stadtkommandeuren vorwirft, sie hätten sich "von Ulbricht in den Hintern treten lassen".
Die SED hat gewonnen, die Grenze ist gesichert. Dass die Diktatur sich mit der Aktion jedoch selbst das Verfallsdatum ausgestellt hat, ahnt da noch keiner. Die eingesperrten DDR-Bürger können lange unter Kontrolle gehalten werden, aber nicht für immer. Am Ende wird die DDR sich selbst befreien.
Der Spitzelstaaat
IM, Inoffizieller Mitarbeiter, eine amtliche Bezeichnung, ein Synonym für einen Überwachungsstaat, der bisher seinesgleichen sucht. Das Ministerium für Staatssicherheit der DDR, kurz MfS, beschäftigt gegen Ende etwa 100.000 solcher IMs, Spitzel, die Kollegen, Freunde, Familienangehörige ausspionieren sollten. Zusammen mit den knapp 90.000 hauptamtlichen Angehörigen des MfS waren damit fast zwei Prozent der Bevölkerung betraut, den Rest unter Kontrolle zu halten. Doch woher kommt diese Angst der DDR-Führung vor den eigenen Bürgern?
Die Angst vor dem eigenen Volk
17. Juni 1953: aus Protesten gegen eine Erhöhung der Arbeitsnormen entwickeln sich in der gesamten DDR Proteste, die rasch an Schärfe zunehmen. Überall im Land legen die Menschen die Arbeit nieder, in vielen Orten besetzen die Arbeiter offizielle Gebäude und Einrichtungen. Es werden Gefängnisse und Polizeistationen gestürmt, wo die Besetzung nicht gelingt, kommt es zu belagerungsartigen Zuständen. Die spontanen Aktionen haben kein Ziel, die spontanen Ausschreitungen sind ein Ventil für die Unzufriedenheit der Menschen. Die DDR-Führung muss nach Karlshorst in das Hauptquartier der Sowjet-Streitkräfte fliehen. Diktator Ulbricht bittet den großen Bruder um Hilfe. Der greift entschlossen durch. Das Kriegsrecht wird ausgerufen, überall im Land fahren Panzer auf. Unter dem Eindruck der massiven Militärpräsenz bricht der Aufstand schnell wieder zusammen.
Ulbricht und das Politbüro können die Ereignisse des 17. Juni jedoch nicht vergessen. Um ein Haar hätte das Volk die Diktatur gestürzt. Die Männer können sich gut vorstellen, welches Schicksal ihnen in diesem Fall geblüht hätte - und das wollen sie verhindern, ein für alle Mal. Das damals bereits existierende MfS erschien ihnen jedoch zunächst nicht das geeignete Mittel dafür zu sein. Im Zuge einer Strafaktion nach den Aufständen verliert die Einrichtung ihren Status als vollwertiges Ministerium. Nur zwei Jahre später greift das Politbüro jedoch wieder auf die Geheimpolizei zurück und stellt den vollen Status der Staatssicherheit als Ministerium wieder her - und findet schnell den richtigen Mann fürs Grobe.
Schwert und Schild der Partei
1957 übernimmt Erich Mielke die Leitung des MfS, und der weiß, wie man mit "Klassenfeinden" fertig wird. 1931 hatte Mielke als treuer Soldat der KPD zwei Polizisten der verhassten Weimarer Republik erschossen, später kämpfte er im spanischen Bürgerkrieg gegen die Faschisten. Direkt nach dem Krieg kehrt er direkt in die sowjetisch besetzte Zone nach Deutschland zurück, und macht dort Karriere - ausgerechnet in den Sicherheitskräften, erst als Verantwortlicher für Polizei und Justiz im Zentralkomitee, dann als zweiter Mann in den Vorläufer-Organisationen des MfS. Und nun ist er Chef - der Polizistenmörder als oberster Geheimpolizist der DDR.
Unter seiner Leitung wird das Ministerium zum "Schwert und Schild der Partei" und stößt wie eine Krake in sämtliche Bereiche des gesellschaftlichen Lebens vor. Die "Stasi" wird bald zum Synonym der umfassenden Überwachung der Menschen. IMs werden in immer größerer Zahl angeworben, um auch in Kreise vorzudringen, in die hauptamtliche Stasi-Leute nicht gelangen konnten: Dissidenten, Intellektuelle, die Kirche. Volle Kontrolle als Versicherung gegen Umsturzversuche - ganz nach dem Geschmack des Politbüros.
Kontrollapparat mit allen Mitteln
Zu der Kontrolle der eigenen Bevölkerung findet die Stasi früh Gefallen an industriellen Methoden in ganz großem Stil. So wird schnell der gesamte Briefverkehr zwischen DDR-Bürgern und Angehörigen im Westen maschinell geöffnet und kontrolliert - spezielle Maschinen öffnen die Briefe und verkleben sie wieder spurlos, zwischendrin werden die Briefe auf gefährliches Gedankengut und Devisen geprüft. Wer das Falsche denkt, wandert in den Knast, und die Devisen wandern in den Staatshaushalt der immer klammeren DDR.
Schnell unterhält die Stasi auch eigene Untersuchungsgefängnisse - denn die Feinde der sozialistischen Ordnung müssen schließlich auch zu Aussagen gebracht werden. Bis 1989 verschwinden hunderte Kritiker des Systems unter fadenscheinigen Gründen in Gefängnissen wie Hohenschönhausen in Berlin. Dort ist zwar körperliche Folter selten, der psychische Druck jedoch umso höher. Denn gespitzelt wird auch im Knast, die Häftlinge werden konsequent ausgespielt - die eingemauerte "Spitzelhölle" im Kleinen als perverse Steigerung der Spitzelei im eingemauerten Arbeiterparadies DDR.
Menschenverachtung an der Tagesordnung
Unter größeren Gewissensbissen haben die Stasi-Oberen dabei nicht zu leiden. 1981 macht Mielke auf einer Sitzung der Führungsriege unmissverständlich klar, was mit denen zu geschehen habe, die das System der DDR ablehnen: "Kurzer Prozess. Weil ich ein Humanist bin. Deshalb habe ich solche Auffassung. […] Das ganze Geschwafel von wegen nicht Hinrichtung und nicht Todesurteil – alles Käse, Genossen. Hinrichten, wenn notwendig auch ohne Gerichtsurteil." Für Republikflüchtlinge, die diese humanistischen Verhältnisse hinter sich lassen wollten, hatte Mielke ähnlich viel übrig: "Ich will euch überhaupt mal etwas sagen Genossen, wenn man schon schießt dann muss man dat so machen, dass nicht der Betreffene noch bei wegkommt sondern dann muss er eben dableiben bei uns. Ja so ist die Sache, wat is denn das, 70 Schuß loszuballern und der rennt nach drüben und die machen ne Riesenkampagne." Menschenverachtung ist an der Tagesordnung in der Institution, die die höchste Wächterin der Staatsordnung in der DDR sein will.
Das Aushängeschild der Stasi ist daher ausgerechnet die Abteilung mit der klandestinsten Tätigkeit - die Hauptverwaltung Aufklärung unter Markus Wolf. Die bespitzelt nicht die eigene Bevölkerung sondern den Klassenfeind auf dessen eigenem Gebiet. Und das so effektiv, dass noch heute westliche Dienste mit Hochachtung von der Arbeit der roten Spione sprechen. Bis zum Ende der DDR unterhielt die HV A ein breites Informanten-Netzwerk im Westen, nicht selten an den sensibelsten Punkten der Bundesrepublik.
Spionage-Erfolge im Ausland
So konnte die HV A unter anderem Agenten bei der NATO, im Bundesnachrichtendienst oder im Verfassungsschutz platzieren. Den berühmtesten Coup landete Wolfs Abteilung jedoch mit der Platzierung eines Agenten im direkten Umfeld eines Bundeskanzlers. Günter Guillome, der Berater von Kanzler Willy Brandt wurde, liefert zwar nie so hochkarätige Informationen wie etwa NATO-Spion "Topas" - als er jedoch enttarnt wird und damit die Öffentlichkeit erfährt, dass die Stasi bis in die Machtzentrale der Bundesrepublik vordringen kann, verschafft Guillome der Spitzeltruppe ihren größten PR-Erfolg. Die Stasi ist fortan auch in der Bundesrepublik berüchtigt.
In der DDR bildet die Stasi derweil immer mehr einen Staat im Staate, eine Parallelgesellschaft, die allerdings stets unter fester Kontrolle des Politbüros bleibt. Sowohl Ulbricht als auch sein Nachfolger Erich Honecker können fest auf Mielke und seine Truppe zählen. Dafür bekommt der mittlerweile unglaublich aufgeblähte Apparat des MfS für seine verschiedenen Hauptverwaltungen und Unterabteilungen ein Hauptquartier von den Ausmaßen eines kleinen Stadtviertels. In Berlin-Lichtenberg schottet sich der Geheimdienst hermetisch ab, mit eigenem Krankenhaus, einer juristischen Hochschule und einem Devisenshop, in dem sich allerlei Köstlichkeiten aus dem Westen kaufen kann. Judaslohn eben.
Böse Geister mit Lachen austreiben
Die Bevölkerung fürchtet und hasst die Stasi. Niemand weiß, wer ein Informant sein könnte, und allein diese Angst hält lange Zeit jeden Unmut im Zaum. Niemand möchte ins Visier von Mielkes Truppe geraten. Bekannte Staatskritiker haben dabei ihre ganz eigene Art, mit der Überwachung umzugehen - in Dissidentenkreisen wird bei Telefongesprächen gerne auch mal vergnügt der Stasi-Mann am Abhörgerät gegrüßt. Doch so perfekt der Spitzelapparat mit den Jahren wird, so ausgefeilt die Unterdrückungsmethoden sind, am Ende kann auch die mächtige Stasi nicht verhindern, dass die Unterdrückten sich letztlich wehren. Als Ende der achtziger Jahre die Menschen auf die Straße strömen und Veränderungen formen, können auch all die IMs die Entwicklung nicht mehr aufhalten.
Und so findet sich schließlich der gnadenlose "Humanist" vor einer freigewählten Volkskammer wieder, wo er stammelnd versucht, seine Arbeit zu rechtfertigen und den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. "Ich liebe – Ich liebe doch alle – alle Menschen", faselt der Geheimpolizist. "Na ich liebe doch – Ich setzte mich doch dafür ein!" Zum ersten Mal ist der gefürchtete Mann Gelächter ausgesetzt - die DDR treibt ihren bösen Geist mit Lachen aus.
Nur kurze Zeit später gehört die Stasi der Vergangenheit an, zusammen mit dem Staat und der Partei, die zu verteidigen sie angetreten war. Der größte Überwachungsapparat der deutschen Geschichte war besiegt worden - von der ersten friedlichen Revolution auf deutschem Boden, ganz ohne die Gewalt, vor der sie sich immer gefürchtet hatte. Dem gewaltlosen Widerstand hatte die Stasi letztlich nichts entgegenzusetzen - von all ihren Mikrofonen und Agenten unbemerkt war sie von der Geschichte überholt worden.
Die friedliche Revolution
März 1985: der Anfang vom Ende des eisernen Vorhangs beginnt mit einem Machtwechsel. In Moskau wird der ehemalige Provinzfunktionär Michail Gorbatschow zum Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Der neue starke Mann der Sowjets ist allerdings kein Betonkopf wie seine Vorgänger - Gorbatschow hat die Gerontokraten der Kommunisten aufs Kreuz gelegt.
Denn der Mann ist ein Reformer, mehr noch, im Gegensatz zu den alten Männern, die an der Macht kleben, ist er das, was man einen echten Kommunisten nennen könnte: er interessiert sich für das Wohl des Volkes. Und weil er ein Kommunist ist, versucht er, ihn zu retten, indem er ihn den Problemen der Menschen anpasst. Überleben durch Veränderung, wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.
Den Kommunismus durch Reformen retten
Gorbatschow sieht, dass die Systeme in der UdSSR und ihren Satellitenstaaten nur noch durch Unterdrückung aufrechterhalten werden können. Überall sind über brutale Geheimpolizeien entstanden, von denen die brutalste wohl die rumänische "Sekuritate", die größte und paranoideste aber sicher die Staatssicherheit der DDR war. Ihr einziger Zweck: die Machthaber vor dem eigenen Volk zu schützen. Für Gorbatschow ist diese Situation unhaltbar. Auch er will dem Sozialismus die Macht erhalten, aber nicht um jeden Preis.
Deshalb setzt er der Unterdrückung zwei neue Konzepte entgegen, Perestroika und Glasnost. Das eine heißt "Umstrukturierung" und kündigt tiefgreifende Veränderungen in den Betonsystemen des Ostens an. Das andere heißt "Offenheit", und soll nichts weniger werden als Meinungsfreiheit für die geknebelten Untertanen im sowjetischen Einflussbereich. Gorbatschow plant nichts Geringeres als eine Revolution. Sein erster Schritt: 1988 verabschiedet er sich von der "Breschnew-Doktrin" und gestattet "sozialistischen Bruderstaaten" eine eigene Interpretation des Kommunismus, auch, wenn dies Demokratie bedeuten sollte.
Die Diktatoren sperren sich
Den Mächtigen in diesen Bruderstaaten gefällt der Neue Kurs jedoch kein bisschen. Und so reagieren die Partei- und Staatschefs in Polen, Rumänien oder der DDR ziemlich humorlos, als sie von den Kapriolen des Russen erfahren. Vor allem die DDR ist verschnupft. Das Politbüro sieht sich seit Ulbrichts Zeiten im "Schützengraben" des Kalten Krieges, altersschwache Kämpfer an der vordersten Front des Sozialismus. Die Mitglieder waren zum größten Teil noch unter Stalin in Moskau ideologisch geschult worden, und so etwas hält ein Leben lang. Gerade Erich Honecker, der Staatschef der Ostdeutschen, sieht sich immer mehr als wahren kalten Krieger - schließlich hatte er für Ulbricht die Mauer gebaut und damit den vermeintlich größten Sieg der SED-Diktatur eingefahren. Demokratie oder Meinungsfreiheit kann er in seinem Kampf gegen den Kapitalismus nicht gebrauchen.
Also geht man erstmal auf Distanz zur Sowjetunion. Die Abdrucke von Gorbatschows immer liberaleren Reden werden zensiert, die sowjetische Monatszeitschrift "Sputnik" und einige andere Magazine werden zwischenzeitlich verboten. Der Funktionär Kurt Hager versteigt sich in einem Interview mit dem westdeutschen Stern sogar zu sowjetkritischen Anspielungen. Auf die Frage, ob die DDR den Reformen in Moskau folgen würde, antwortet Hager süffisant: "Würden Sie, wenn Ihr Nachbar seine Wohnung neu tapeziert, sich verpflichtet fühlen, Ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren?" Es ist Paradox: vierzig Jahre, nachdem Stalin Osteuropa unter seinen Einfluss gezwungen hat, sind es gerade die Führer dieser Länder, die nun das Erbe des übermächtigen Diktators hochhalten wollen.
Hoffnung wächst im Osten
Doch die Völker, die die greisen Diktatoren unmündig halten wollen, hören den Ruf Gorbatschows sehr wohl. Vor allem in der DDR wird der Generalsekretär wie ein Volksheld verehrt, Gorbi nennen sie ihn. Er, so ihre große Hoffnung, könnte vielleicht endlich den Eisernen Vorhang um ihr Land lockern. Da kommen Äußerungen wie die Hagers gar nicht gut an, und der Zorn der Eingesperrten wächst. Und mit ihm ihr Mut, dem System die Stirn zu bieten.
Am 17. Januar 1988 kommt es zu den ersten offenen Protesten gegen das Regime. Während der alljährlichen Gedenkdemonstration für Rosa Luxemburg nutzen einige Unzufriedene die alten Phrasen des Systems für sich und entrollen ein Transparent mit einem Luxemburg-Zitat: "Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden". Das Reizwort Freiheit ruft die Sicherheitskräfte auf den Plan, vor den laufenden Kameras westlicher Journalisten werden zahlreiche Demonstranten verhaftet.
Friedlicher Widerstand
Die Protestierenden sind Mitglieder der neu formierten Friedensbewegung in der DDR, die für friedliche Reformen Freiheit eintreten will. Darauf muss das Regime antworten, und das tut es mit den ganz alten Reflexen. Eine Verhaftungswelle soll die Bewegung zerschlagen. Doch das Regime hat nicht mit der Entschlossenheit seines Volkes gerechnet - die Perestroika hat den Menschen mehr Hoffnung gegeben, als Honecker und die Greise an der Spitze sich eingestehen mögen. Überall im Land kommt es zu Solidaritätskundgebungen.
Im Mai kommt es zur nächsten Macht zwischen Volk und Diktatur. Bei der Kommunalwahl steht wie immer nur die Kandidaten der SED zur Wahl - während in Russland bereits verschiedene Kandidaten und Richtungen zugelassen sind. Als dann die SED-Riege mit knapp 99 Prozent siegt, schlägt erneut die Stunde der Regimegegner, sie können erstmals in der DDR-Geschichte Manipulationen nachweisen. Erneut kontert die Führung mit Gewalt - die folgenden Proteste gegen den Betrug werden von NVA und MfS aufgelöst. Doch das Volk schlägt nicht zurück - gewaltloser Wiederstand ist ihre Devise, und gegen den schlägt kein Volksarmist gerne los. DDR-Chef Honecker beweist in dieser Situation kolossales Unverständnis für die Anliegen des Volkes. Unbeirrt ruft der alte Mann in die Volkskammer: "Den Sozialismus in seinem Lauf, hält weder Ochs noch Esel auf".
Die Menschen wählen mit den Füßen
Kurz nach dem Wahlskandal kommen die Proteste für eine Weile zum Erliegen - allerdings nicht, weil die Gewalt gesiegt hätte. Gebannt blickt die Nation nach Ungarn. Die dortige Regierung hat die neue Selbstbestimmung dazu genutzt, die Grenzanlagen zu Österreich abzubauen. Der Balkan erscheint den DDR-Bürgern nun als Fluchtweg in den goldenen Westen, und deshalb wählen die nun mit den Füßen. Hunderte versuchen den Weg über Ungarn, andere flüchten sich während des Sommerurlaubs in die bundesdeutschen Botschaften in Budapest, Prag und Warschau. Wochen zähen Wartens und Verhandelns beginnen. Der Westen erkennt seine Chance, und bearbeitet die völlig überforderte DDR-Führung. Am Ende gibt das Politbüro nach - am 23. August kann Bundesaußenminister Genscher den jubelnden Botschaftsbesetzern in Budapest die Ausreise nach Westdeutschland verkünden. Am 30. September folgen ihnen die Flüchtlinge aus den anderen Botschaften. Die Züge der Befreiten durchfahren auf ihrem Weg auch das Gebiet der DDR, und auf den Bahnhöfen kommt es zu dramatischen Szenen. In Dresden versuchen Menschen, auf den fahrenden Zug aufzuspringen
Für die Daheimgebliebenen geht der Kampf um die Freiheit indes weiter. Am 4. September 1989 finden sich in Leipzig nach dem Friedensgebet Menschen auf dem Platz vor der Nikolaikirche zusammen. Sie tragen ein paar Transparente, die - unter dem Eindruck der Massenflucht - vor allem Reisefreiheit fordern. Es ist Montag, und an diesem 4. September wird eine Tradition geboren, die am Ende die DDR stürzen wird: die Montagsdemonstrationen. Von nun an kommen jeden Montag Menschen zum Friedensgebet, um danach zu protestieren, und es werden immer mehr.
Denn der Termin der Demonstrationen ist geschickt gewählt. Die Gebete, zunächst in der Nikolaikirche, dann in drei weiteren Kirchen in der Leipziger Innenstadt beginnen um 17 Uhr. Diese Zeit erlaubt einerseits, an Gebet und Demonstration teilzunehmen, ohne der Arbeit fernzubleiben, liegt aber auch vor dem Ladenschluss, weshalb sich stets ein Alibi vor den Sicherheitskräften finden lässt. Man will so unverdächtig wie möglich erscheinen.
Die Menschen nehmen sich ihre Freiheit
Am 9. Oktober ist aus dem Häuflein Demonstranten ein Zug von 70.000 Menschen geworden. Abgestellte Sicherheitskräfte und Armeeeinheiten beobachten die Menge argwöhnisch. Doch die Menschen machen kein Anstalten, gewalttätig zu werden. Es gibt keine Konfrontation, keine Straßenschlacht wie am 17. Juni 1952. Stattdessen rufen die Leute Parolen wie "Keine Gewalt!" und immer wieder "Wir sind das Volk!" Und die Armee hält still. Die Unterdrückten knacken die Diktatur mit ihrem totalen Pazifismus.
Der Mut der Demonstranten ist unglaublich - in China waren ähnliche Kundgebungen nur wenige Wochen zuvor blutig niedergeschlagen worden. Die Bilder vom "Platz des himmlischen Friedens" konnten auch vor den DDR-Bürgern nicht verboten werden. Am 16. Oktober sind es dann auch schon 160.000 Protestierende, eine Woche später bereits 320.000. Aus kleinen Demos ist eine Massenbewegung entstanden, gegen die auch die SED-Führung kein Mittel mehr hat. Panzer kann sie nicht mehr einsetzen - Gorbatschow hat der Gewalt bereits eine klare Absage erteilt - und wahrscheinlich wären große Teile der Sicherheitskräfte dem Befehl gar nicht mehr gefolgt.
Die friedliche Revolution ist in vollem Gange, und zwingt der Diktatur ihren Willen auf. Im Schatten der Demonstrationen sind bereits die ersten demokratischen Gruppierungen und Parteien entstanden, wie das "Neue Forum", die SDP oder das Bündnis '90. Die Entwicklung überholt die greise SED-Führung. Die demokratischen Strukturen, die Meinungsfreiheit, die "Perestroika" und "Glasnost" ihnen gewähren sollten - die Menschen haben sie sich einfach genommen. Ohne einen einzigen Stein zu werfen.
Das deutsche Jahr
Ost-Berlin, Oktober 1989. Die DDR ist ein sterbender Staat. Die meisten Bürger haben ihm bereits die innere Kündigung ausgesprochen, viele hauen ab in den Westen, sobald sich die Gelegenheit bietet. Dennoch feiert der real existierende Sozialismus seinen 40. Geburtstag - mit allem Pomp, den Diktaturen zu bieten haben, und den üblichen, endlosen Militärparaden. Die greisen Führer im Politbüro haben jeden Kontakt zur Realität verloren.
Illusionen vom Sozialismus
Damit die ihre schönen Illusionen vom Sozialismus behalten können, den weder Ochs noch Esel aufhalten, werden die Proteste, die überall im Lande gären, von den Sicherheitskräften mit aller Macht von den Feierlichkeiten ferngehalten. Doch den größten aller Revolutionäre des Ostblocks kann die Stasi nicht kassieren - denn der ist Ehrengast und sitzt auf der Tribüne.
Und Michail Gorbatschow sagt DDR-Chef Honecker gleich auf dem Flughafen beim Bruderkuss die Meinung: Wer zu spät komme, so Gorbatschow zu Betonkopf Honecker, den bestrafe eben das Leben. Sollte der Diktator gegen die Demonstranten in der DDR vorgehen wollen, müsse er auf Panzer aus Moskau verzichten. Honecker steht alleine da.
Wie allein, das merkt der gebürtige Saarländer allerdings erst einige Tage später. Am 18. Oktober muss er feststellen, dass ihn auch seine Kumpane im Politbüro im Stich gelassen haben, man fordert ihn zum Rücktritt von allen Ämtern auf. Die wollen ihren Staatschef opfern, um dem Volk ein Bauernopfer anzubieten und den eigenen Stuhl zu retten. Jetzt soll es der junge Egon Krenz richten, der mit 52 Jahren allerdings auch nicht mehr taufrisch ist. Zusammen mit dem SED-Politiker und erklärtem Reformer Hans Modrow, der Ministerpräsident wird, soll Krenz die Aufrührer wie brave Schäfchen zurück in die Herde des Sozialismus treiben. "Mit der heutigen Tagung werden wir eine Wende einleiten," weckt der neue Chef denn auch die Hoffnungen der Altsozialisten, "werden wir vor allem die politische und ideologische Offensive wieder erlangen."
"Großmutter, warum hast du so große Zähne?"
Nur das Volk macht da nicht mit. Schnell tragen die Umworbenen Plakate mit Karikaturen von Krenz, die ihn als den Wolf aus Rotkäppchen zeigen: "Großmutter, warum hast du so große Zähne?" Die Menschen trauen dem Neuen nicht, da hilft auch Modrow an seiner Seite nichts, dem während der Montagsdemonstrationen noch so gut der Dialog mit den Bürger- rechtlern gelungen war. Schließlich hatte Krenz bei den aufgedeckten Wahlfälschungen bei den Kommunalwahlen in der DDR als Wahlleiter kräftig mitgemischt - und zu der blutigen Niederschlagung der Studenten- proteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking bemerkte er nur nüchtern "es sei etwas getan worden, um die Ordnung wiederherzustellen".
Für die Demonstranten ist Krenz also nur der nächste verlogene Funktionär. Längst haben sie sich den neuen, politischen Alternativen anvertraut, von der die einflußreichste das "Neue Forum" ist. Das Forum ist seit den ersten Tagen der Proteste aktiv und mit den Montags- demonstrationen groß geworden. Sein Vorteil ist, dass es im Gegensatz zu den anderen politischen Gruppierungen wie der Frauenbewegung oder der grünen Splitterparteien keine politische Agenda hat, abgesehen von der Überzeugung, dass sich die Verhältnisse in der DDR drastisch ändern müssen. Reisefreiheit, freie Rede, Menschenrechte, das sind Ziele, mit denen sich jeder der Demonstranten identifizieren kann.
Dem Politbüro läuft die Zeit davon
Bald überholen die Ereignisse jedoch jede politische Initiative. Am 3. November öffnet die Tschecheslowakei ihre Grenzen, DDR-Bürger können plötzlich über den sozialistischen Bruderstaat ohne Formalitäten in den Westen ausreisen. Es kommt zu einer neuen Fluchtwelle. Am 4. November versammeln sich auf dem Alexanderplatz in Berlin über eine Million Menschen zu der größten Demonstration, die die DDR je gesehen hat, und fordern immer vehementer ihre Freiheit. Das Fernsehen berichtet live, und wer nicht in Berlin sein kann verfolgt gebannt die Ereignisse.
Auch das Politbüro, in dem es immer verzweifelter zugeht. Den alten Männern läuft die Zeit davon, und sie wissen es. In langen Nächten versuchen sie, irgendwie eine Lösung zu finden, die die Menschen von der Straße und sie an der Macht erhält. Aber Konzessionen wie sie die Demonstrationen fordern kommen für das Politbüro nicht in Frage. Eines ist den Männern jedoch klar - die Krise ist nicht ohne grundlegende Zugeständnisse beizulegen. Entweder erhalten die Menschen die herbeigesehnte Reisefreiheit, oder der Staat fliegt auseinander. Also beschließt man eine kleine Revolution: ab dem 10. November, 4 Uhr früh sollten an einigen wenigen Grenzübergängen Ausreisewillige kontrolliert das Land verlassen dürfen - bei gleichzeitiger Ausbürgerung aus der DDR.
Am Abend des 9. Novembers soll der Beschluss auf einer Live-Pressekonferenz verkündet werden. Elektrisiert sehen die Menschen, wie die Vertreter des neuen Politbüros die Bühne betreten. Um 18:57 Uhr verliest ein komplett übermüdeter Günter Schabowski vor laufenden Kameras, dass sofort und unverzüglich Privatreisen ins „Ausland“ ohne Vorliegen von Voraussetzungen wie Reiseanlässe und Verwandtschafts- verhältnisse beantragt werden könnten. Die Genehmigungen würden kurzfristig erteilt. Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur Bundesrepublik erfolgen. Schabowski hatte sich verlesen, ein unverzügliches Inkrafttreten des Beschlusses war zu keiner Zeit geplant. Doch der übernächtigte Schabowski bestätigt auch auf Nachfrage: ""Das tritt nach meiner Kenntnis... ist das sofort, unverzüglich."
Die Grenze wird gestürmt
Die Menschen trauen ihren Ohren kaum - zögern jedoch keine Minute. Überall im Land machen sich die Menschen auf den Weg zu den Grenzübergängen, die meisten natürlich in Berlin. Die Grenztruppen sind darauf nicht vorbereitet, keiner hat ihnen gesagt, was sie tun sollen. Angesichts des Ansturms von Leuten und der Fernsehübertragung bleibt ihnen nur eins übrig - sie lassen die Menschen vorbei. Damit ist die Grenze offen. Die Stempel für die geplante Ausbürgerung bleiben in den Schränken, die Leute strömen hinüber in den Westen. Nicht aber, um zu fliehen. Die meisten wollen einfach nur frei zwischen den beiden Staaten verkehren können. Republikflucht, das Verlassen der Heimat, liegt den meisten fern.
Überall an den Grenzen kommt es zu ergreifenden Szenen. Tausende West-Berliner haben ebenfalls aus dem Fernsehen von der Grenzöffnung erfahren und sind zur Mauer geeilt, um die Ost-Berliner zu begrüßen. Es wird gefeiert, wildfremde Menschen liegen sich ausgelassen in den Armen. Überall werden Fahnen geschwenkt, ein Meer aus Schwarz-Rot-Gold. Niemand kann das unglaubliche Glück dieser Nacht fassen. Die Mauer, dieses menschenverachtende Bollwerk, ist nach knapp dreißig Jahren durchbrochen worden.
Irgendwann fällt jede Mauer
Und in dieser Stimmung erklimmen die Menschen die Mauer am Brandenburger Tor. Dort ist die Sperranlage mehr als meterdick, man kann bequem darauf stehen. Die vereinten Berliner tanzen, und bei den Grenztruppen denkt keiner daran, auf sie zu schießen. An manchen Stellen beginnen die Leute damit, die Grenzanlagen mit Meißeln zu bearbeiten und versuchen, das verhasste Bauwerk direkt einzureißen. Das scheitert zwar, aber an diesem Abend hat das Ende des eisernen Vorhangs begonnen.
Natürlich versucht die SED noch einmal, ihre Pfründe zu sichern, Grenzsoldaten beziehen zum Beispiel Stellung auf der Mauer am Brandenburger Tor, um die Leute vom Betreten abzuhalten. Doch in der allgemeinen Aufbruchsstimmung kann auch das Politbüro sich nicht mehr halten. Die Nachfolger öffnen daraufhin weitere, provisorische Grenz- übergänge, die in die Mauer gebrochen werden. Und nur wenige Wochen später, die DDR hat mittlerweile eine demokratisch gewählte Regierung, ziehen überall Bautrupps auf, West-THW und Pioniere der NVA, und gemeinsam bauen sie die unmenschlichen Grenzbauten ab. Die Mauer ist gefallen, nicht durch Panzer oder Krieg, sondern durch den Freiheitswillen der Menschen. Nun ist der Weg frei für die Einheit der beiden deutschen Staaten, die so lange getrennt waren.
Ein Volk wächst zusammen
Am 12. April 1990 steht Lothar de Maizière vor der Volkskammer und kann es eigentlich kaum glauben. Er ist der erste frei gewählte Staatschef der Deutschen Demokratischen Republik, 265 Stimmen haben ihn soeben zum Ministerpräsidenten eines befreiten Landes gemacht.
Vor ihm und seinem Kabinett, das die Abgeordneten soeben gleich mit bestätigt haben, liegen schwere Zeiten. Zwar ist die Mauer gefallen, zwar ist die SED-Diktatur Vergangenheit, doch gilt es, die Zukunft eines Landes zu gestalten, das sich zutiefst im Umbruch befindet. Die Vergangenheit muss bewältigt werden, und keiner weiß, was mit der deutschen Teilung geschehen soll.
"Wir sind ein Volk!"
Auf der Straße schein der Weg schon vorgezeichnet. Seit Januar skandieren dieselben Menschen, die mit ihrem Ruf "Wir sind das Volk" die Unterdrückung beendet haben, ganz neue Slogans. Die Montagsdemon- stranten, die nach wie vor durch Leipzig und andere ostdeutsche Städte ziehen, zitieren die Hymne der DDR und rufen den neuen politischen Führern "Deutschland einig Vaterland" entgegen, oder aber "Wir sind EIN Volk!" Für die Menschen ist ein geeintes Deutschland nur eine Frage der Zeit - und die sollte nicht zu lang sein.
Für die Politik ist die Sache jedoch nicht so einfach. Ein Land lässt sich nicht so einfach fusionieren: die Staatsrechtler wissen nicht, ob es einen neuen Staat geben wird, oder ob die DDR einfach der Bundesrepublik beitreten soll. Die Politiker im Osten fürchten, dass ihr Land von "denen im Westen" einfach geschluckt wird, die Spitzen der Bundesrepublik hingegen zögern grundsätzlich. Denn sie wissen um die Bedenken der Nachbarn, dort hat man Angst vor einem vereinten Deutschland, damit verbindet man zu viele schlechte Erfahrungen.
Das Gleichgewicht der Mächte
Die Briten etwa fürchten um das Gleichgewicht der Mächte auf dem Kontinent. Das Königreich sieht in dieser "Balance of Power" die einzige Möglichkeit, das Entstehen einer Hegemonialmacht zu verhindern - und die vereinigten Deutschen mit ihrer ohnehin schon übermächtigen Wirtschaft könnten die neue dominierende Nation werden. Die Franzosen andererseits wollen ihre eigene Vormachtstellung in Europa nicht verlieren. Mit einem starken, wiedervereinigten Deutschland in der Mitte Europas und den sich nach Westen orientierenden ehemaligen Ostblockstaaten würde Paris an den Rand gedrückt. Für die Franzosen ein unerträglicher Gedanke - das alte Bonmot des Romanciers Francois Mauriac wird zum vielzitierten Motte der Grande Nation in diesen Tagen: "Ich liebe Deutschland so sehr, dass ich zufrieden bin, dass es davon zwei gibt."
Entschieden aber wird das Schicksal zwischen den beiden Supermächten USA und Sowjetunion - denn nach wie vor sind die Deutschen ein Spiel- ball der Interessen. Für die Amerikaner ist die Sache klar, Deutschland muss wieder ein Land werden, sofern das Volk dies wünsche. Bereits am 12. Juni 1987 hatte der damalige US-Präsident Ronald Reagan im Angesicht der Berliner Mauer gefordert: "Come here to this gate! Mr. Gorbachev, open this gate! Mr. Gorbachev, tear down this wall!" Alles weitere liege gemäß dem Selbstbestimmungsrecht der Völker bei den Deutschen - mit einer Bedingung: ein vereintes Deutschland müsse Mitglied der NATO und der EG sein.
Genau dagegen sträuben sich aber die Sowjets, Gobatschow will ein blockfreies Deutschland durchsetzen. Demokratische Reformen und Freiheit der DDR, schön und gut, aber Gesamtdeutschland unter der Fuchtel der Amerikaner? Das schmeckt ihm dann doch nicht, und so warnt "Gorbi", der Held der Wende und Idol der Ostdeutschen, die beiden deutschen Staaten vor einem Alleingang.
Geschicktes Verhandeln um die Einheit
Bundeskanzler Helmut Kohl versucht deshalb auch zunächst, es Allen recht zu machen. Bereits am 28. November 1989 hatte Kohl dem Deutschen Bundestag einen Zehn-Punkte-Plan zur Wiedererlangung der deutschen Einheit vorgelegt. Darin schlägt er die Bildung einer lockeren "Konföderation" zwischen der Bundesrepublik und der DDR vor - und die sollte erst im Zuge des europäischen Integrationsprozesses langsam zu einem Staat zusammenwachsen. Den Menschen auf der Straße gefiel diese Vorsicht allerdings nicht. Unter dem Eindruck der Ereignisse während der Wende, als sich Deutsche aus Ost und West jubelnd in den Armen gelegen hatten, kann es für sie nur die staatliche Einheit Deutschlands geben, jetzt und ohne Bedingungen.
Also lotet die Regierung Kohl bei den Siegermächten die Chancen aus, und erkennt die Gunst der Stunde. Denn die Sowjets beginnen zu wackeln, zeichnen sich doch ganz eigene Probleme zu Hause ab. Die ehemaligen Sowjetrepubliken wollen die Unabhängigkeit, da wird die deutsche Frage immer unwichtiger. Die Briten und Franzosen ließen sich mit politischen Konzessionen gefügig machen, so das Kalkül, vor allem dank des unbedingten Rückhalts durch die USA. Deshalb macht Kohl den ehemaligen Besatzern ein unwiderstehliches Angebot: wenn sie grundsätzlich der Vereinigung zustimmten, dürften sie bei den Modalitäten mitreden.
So kommen die Zwei-Plus-Vier-Gespräche zustande, in denen Sieger und Besiegte des Zweiten Weltkriegs über die Zukunft Deutschlands beraten sollen. Bereits am 14. Februar 1990 kommen die Außenminister der beiden deutschen Staaten sowie diejenigen der vier Siegermächte schließlich zusammen. Hauptpunkt der Tagesordnung ist die Sicherheit der deutschen Nachbarn. Die Deutschen erklären sich bereit, die gegenwärtigen Grenzen als endgültig zu akzeptieren - die ehemaligen deutschen Ostgebiete jenseits der Oder sollen nun ganz offiziell zu Polen gehören. In der Frage der Bündniszugehörigkeit bleibt Gobratschow jedoch stur - er verbietet seinem Außenminister Schewardnadse jede Art von Zugeständnis in dieser Angelegenheit.
Mit Strickjacke in den Kaukasus
Die Deutschen, die bereits eine umfassende Währungs- und Sozialunion verhandeln, sehen ihre Felle davon schwimmen. Also beschließt der Kanzler, Gorbatschow persönlich aufzusuchen, Der nimmt ihn mit in den Urlaub in den Kaukasus, dort könne man viel besser beraten. Gorbatschow, den Kohl einst mit Nazi-Propagandaminister Goebbels verglichen hatte, und der deutsche Bundeskanzler, den Gorbatschow wegen eben dieser Äußerung tief verachtet hatte, gehen nun gemeinsam in Strickjacken an russischen Gebirgsflüssen spazieren - und werden dicke Freunde. Und Kohl gelingt es, dem neuen Kumpel ins Gewissen zu reden. Gorbatschow lässt sich überzeugen - ohnehin war er auch im eigenen Umfeld zunehmend wegen seiner harten Haltung unter Druck geraten. Deutschland erlangt in diesen Sommertagen im Kaukasus seine volle Souveränität zurück - und kann nun frei über seine politische Zukunft entscheiden.
Zu Hause strickt derweil die DDR-Regierung unter Lothar de Maizière an den Vorbereitungen für eine Einigung. Schon früh ist klar, dass die Bildung eines ganz neuen Staates nicht durchzusetzen ist. Die DDR befindet sich in einem desolaten Zustand und politisch nicht gefestigt, während abzusehen ist, dass die Bundesrepublik die Kosten der Wiedervereinigung würde tragen müssen. Also beschließt man einen Beitritt Ostdeutschlands zur Bundesrepublik. Westdeutsche Staatsrechtler, die in der Bundesrepublik die einzig legitime Erbin des Deutschen Reiches sehen, nicken das Ganze ab. Die Regierung de Maizière führt daher die von der SED-Diktatur und den Sowjets abgeschafften Länder wieder ein. Diese, so die Idee, könnten dann jedes für sich dem föderalen System der Bundesrepublik beitreten.
Nach der Rückkehr des Bundeskanzlers aus dem Kaukasus setzen sich die beiden CDU-Männer Kohl und Ministerpräsident de Maizière also zusammen, um nun nach der wirtschaftlichen Union auch die politische Einheit auszuhandeln. Die meisten Themen sind Verwaltungsfragen: die Neuregelung der Stimmenverteilung im bald größeren Bundesrat, die Vereinigung der beiden Parlamente zu einem Bundesparlament. Einzige Überraschung der Verhandlungen: Berlin soll die Hauptstadt der vereinten Republik werden, die Abgeordneten beider Landesteile bald im historischen Reichstag sitzen. Die Abmachungen werden im so genannten Einigungsvertrag festgehalten, dessen Ratifizierung nur noch Formsache ist. Am 20. September stimmen die beiden deutschen Parlamente schließlich dem Einigungsvertrag zu: die Volkskammer mit 299 von 380 Stimmen, der Bundestag mit 442 von 492 Stimmen und der Bundesrat einstimmig.
Einigkeit und Recht und Freiheit
Am 3. Oktober schließlich tritt die Vereinigung in Kraft, aus dem geteilten Deutschland ist wieder ein einziges geworden. Willy Brandt, der mit seiner Ostpolitik den Grundstein für diesen Tag gelegt hatte, frohlockt: "Nun wächst zusammen, was zusammen gehört!" Überall in Deutschland feiern die Menschen noch einmal, vor dem Reichstag versammeln sich tausende Deutsche und bejubeln sich und ihr neues, freies Land. Abermals ein Meer aus Schwarz-Rot-Gold, und wieder liegen sich die Menschen in den Armen. Der deutsche Traum ist Wirklichkeit geworden, und für Alles ist es wie im Märchen.
Dass vor diesem Land noch ein steiniger Weg, eine schwierige innere Einigung liegt, wissen diese glücklichen, jubelnden Menschen noch nicht. An diesem einen Tag gibt es keine Jammer-"Ossis" oder arrogante Besser-"Wessis", nur Deutsche. An diesem einen Tag stehen die Deutschen unter einer Fahne, jubeln zu Tausenden, aber vielleicht zum ersten Mal in der deutschen Geschichte nicht als Nationalisten oder begeisterte Krieger. Sie jubeln, weil der Krieg nun endlich, nach vierzig Jahren, wirklich vorüber ist. Sie jubeln, weil endlich Frieden ist, und sie Alle, in einem Land, gemeinsam frei sein dürfen.
Von der Trennung bis zur friedlichen Wiedervereinigung
Im Kalten Krieg müssen die Deutschen ihre Einheit opfern, und sind bald getrennt durch einen Todesstreifen voller Minen und bewacht von Männern mit Schießbefehl. Das SED-Regime muss sein Volk einmauern, um es nicht zu verlieren, und zementiert die Grenze mit einer Mauer, ein ausgeklügeltes Spitzelsystem soll die Menschen kontrollieren. Am Ende aber wehren sich die Ostdeutschen - und schaffen die Wende. Denn irgendwann fällt jede Mauer, und es wächst zusammen, was zusammengehört.
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Mauerbau
Sonntag, der 13. August 1961. Es ist ein Uhr Nachts, und überall an der Sektorengrenze in Berlin marschieren Trupps der Nationalen Volksarmee, der Grenztruppen, der kasernierten Volkspolizei und der Betriebskampf- gruppen der DDR auf. Insgesamt mehr als 15.000 Mann, bewaffnet mit Stacheldraht und schwerem Baugerät. Die Operation "Rose" ist in vollem Gang - die Abriegelung der Westsektoren vom Rest der Stadt, Mauerbau.
"Wunde" der DDR
Seit mehreren Jahren schon spielt die DDR-Führung um Walter Ulbricht mit der Sperrung von West-Berlin. Seit 1949 hat der die Grenze zur Bundesrepublik Stück für Stück befestigen lassen: zwischen Bayerischem Wald und Ostsee verlief ein breiter Grenzstreifen, gesichert von Wachtürmen, Selbstschussanlagen und Minen. Bewaffnete Einheiten mit Hunden patrouillieren Tag und Nacht, offiziell um den Realexistierenden Sozialismus gegen die Imperialisten zu verteidigen, eigentlich aber, um Menschen von der Flucht in den Westen abzuhalten. Dazu darf gerne auch ohne Vorwarnung geschossen werden. In Berlin aber kann sich jeder, der weg will, einfach in die U-Bahn setzen und in den Westen fahren.
Dieses Schlupfloch ist lebensbedrohlich für die DDR. Denn es sind hoch qualifizierte Arbeiter und Spezialisten, die "rübermachen", Menschen- material, dass die boomende Bundesrepublik gut gebrauchen kann, und das der DDR bitter abgeht. Das Land droht, auszubluten. Und so spricht Ulbricht bald von "einer offenen Wunde", die er so schnell wie möglich schließen will. Überhaupt sieht sich dieser Ulbricht gerne als Frontkämpfer in diesem kalten Krieg und im Aufbau des Sozialismus allgemein.
Denn Ulbricht weiß genau, dass seine Bevölkerung ihm nicht aus wirtschaftlichen Gründen von der Fahne geht. Die Menschen haben genug von der Unterdrückung und der Verfolgung durch die Staatssicherheit. Viele sind spätestens seit dem niedergeschossenen Volksaufstand von 1956 fertig mit dem Staat, der ein Arbeiterparadies sein will. Doch einen weicheren Kurs zu verfolgen und einen milden Sozialismus einzuführen liegt Ulbricht fern - schließlich hat er noch Lenin persönlich gekannt und mit Stalin verkehrt. "Der da hinten kann sich alles leisten", sagt er gerne in kleinem Kreis über die Tauwetter-Experimente des großen Bruders in Moskau, "ich aber sitze im Schützengraben. Welcher Soldat im Schützengraben zündet sich eine Zigarette an?"
Suche nach Alternativen
Deshalb die Mauerlösung. Mit der liegt Ulbricht fortan Kreml-Chef Chruschtschow in den Ohren. Entweder, so Ulbricht, werde die Grenze verrammelt, oder die DDR werde zusammenbrechen. Doch Chruschtschow zögert, der Plan, ein ganzes Volk einzusperren, entsetzt ihn, außerdem sorgt er sich um das Ansehen des Sozialismus in der Welt. Was wird der große Gegner auf der anderen Seite des Atlantiks sagen? Die USA gerieren sich ohnehin schon immer als Befreier der Welt, und angesichts einer sowjetischen Mauer in Berlin könnte die Welt ihnen sogar glauben. Die DDR preisgeben kann Chruschtschow jedoch auch nicht.
Also setzt er auf Konfrontation. Seit wenigen Monaten steht ein neuer, junger Präsident an der Spitze der Vereinigten Staaten - und der alte Haudegen Chruschtschow hält ihn, der Mann heißt übrigens John F. Kennedy, für einen Waschlappen. Deshalb arrangiert er ein einen Gipfel mit Kennedy. Dem unerfahrenen Mann, so sein Kalkül, könne er die Kontrolle über den Zugang nach West-Berlin schon abtrotzen. Damit wäre jeder Flüchtling in Berlin von der Bundesrepublik abgeschnitten, Ulbrichts "Wunde" ganz ohne Mauer geflickt.
Doch Chruschtschow hat Kennedy falsch eingeschätzt. Sollten die Sowjets den Zugang nach West-Berlin sperren, denn "werden wir uns von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen", so Kennedy. "Wir wollen keinen Krieg", droht Chruschtschow, "wenn Sie ihn uns aber aufzwingen, wird es einen geben." Aber Kennedy bleibt ruhig : "Es scheint einen kalten Winter zu geben in diesem Jahr." Am Ende erhält der Kreml-Chef nicht die erwünschten Zugeständnisse. Im Gegenteil, Kennedy weiß nun, woran er ist. "Solange der glaubt, ich habe keine Erfahrung und kein Rückgrat, werden wir mit ihm kein Stück weiterkommen", erklärt er später einem Journalisten. Kennedy beschließt ein gigantisches Aufrüstungsprogramm. Nun würde Chruschtschow Berlin nur mit einem Krieg gewinnen, den er nicht wollte.
Chruschtschow akzeptiert die Mauer
Damit sind alle Alternativen ausgeschöpft, und zähneknirschend akzeptiert der Kreml die Mauerlösung. Am 6. Juli tritt der Sowjetdiplomat Julij Kwizinski im Auftrag des Botschafters an Ulbricht heran. "Wir haben ein Ja aus Moskau!" Ulbricht hat nun, was er will - und verliert keine Zeit. Noch im Juli wird eine Gruppe aus NVA-Offizieren gebildet, die die Aktion planen sollen, unter allerstrengster Geheimhaltung. Niemand soll von der Geschichte erfahren, vor allem nicht die Verzweifelten, die mit dem Gedanken spielen, die DDR zu verlassen. Das Regime befürchtet eine Massenflucht.
In enger Abstimmung mit den sowjetischen Truppen entsteht sehr schnell der Plan für Operation "Rose". Auf Anregung Ulbrichts sollte alles an einem Sonntag über die Bühne gehen. Der SED-Chef rechnet damit, dass die Berliner im schönen Sommerwetter lieber einen Ausflug ins Grüne machen würden, als zu protestieren- das eiskalte Kalkül eines Diktators. Polizisten und Betriebskampfgruppen sollen die Grenzübergänge sperren, während dahinter die NVA das Entstehen des "antiimperialistischen Schutzwalls" gegen die eigene Bevölkerung schützen solle. Und damit auch alles reibungslos über die Bühne geht, betraut Ulbricht seinen besten Mann mit dem Mauerbau.
Der junge Erich Honecker ist Sekretär für Sicherheitsfragen, vor allem aber genießt er das Vertrauen des Diktators, weil er zu ihm gehalten hatte, als ihn das Politbüro während der Unruhen '56 hatte absetzen wollen. Der gebürtige Saarländer und Überzeugungstäter macht sich eifrig an die Arbeit. Vor allem müssen logistische Probleme gelöst werden - so kann die Planwirtschaft der DDR in so kurzer Zeit nicht genügend Stacheldraht bereitstellen. Also rafft Honecker im gesamten Ostblock jeden Millimeter des "Sperrmittels" zusammen, den er kriegen kann. Die werden kreuz und quer durch die DDR verschoben, bevor sie nach Berlin gelangen - schließlich sollen die Westmächte nicht mißtrauisch werden.
Der Plan läuft ohne Störung
Dabei wissen die längst Bescheid oder raten gut. Bereits am 6. August erhält der amerikanische Geheimdienst CIA einen heißen Tipp aus dem Umfeld des Politbüros. Demnach seien "drastische Maßnahmen" geplant, um den Flüchtlingsstrom zu stoppen. Auch die Franzosen erfahren von ihrem Top-Informanten, einem Zahnarzt, der hochrangige SED-Leute behandelt, früh von dem Plan. Verhindern können oder wollen sie ihn nicht. Einerseits haben die Verbündeten in Westberlin nicht genug Kräfte, um einen Mauerbau effektiv zu verhindern. Andererseits fürchtet man seinerseits einen Krieg. So konstatiert Kennedy später, die Mauer sei "keine sehr schöne Lösung, aber tausendmal besser als Krieg."
Also läuft der Plan der SED ganz ungestört. Ulbricht täuscht ganz vergnügt die Massen mit einem berühmt gewordenen Satz: "Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten." Währenddessen werden die Einsatztruppen für die Aktion im Großraum Berlin in aller Ruhe aufgestellt, Honecker bringt seine Männer in Stellung. Es ist der 12. August, ein Samstag - am folgenden Tag soll die Sektorengrenze in Berlin zementiert werden. Die Berliner ahnen nichts, weder die im Westen, noch die im Osten.
So sind auch alle völlig überrascht, als am nächsten Morgen sämtliche Grenzübergänge gesperrt und die Bauarbeiten an der Grenzsperre in vollem Gange sind. Es kommt zu dramatischen Szenen, fast an allen Übergängen. Die Volkspolizei berichtet von tumultartigen Vorkommnissen auf beiden Seiten der Grenze - die Berliner wollen sich nicht so einfach trennen lassen. Verzweifelte Menschen winken mit Taschentüchern nach "drüben", verabschieden sich von ihren Verwandten. An manchen Grenzübergängen versuchen westdeutsche Polizisten, die Menge unter Kontrolle zu bringen und greifen zum Schlagstock - die Berliner rufen ihnen zu: "Ihr schlagt gegen die falsche Seite!"
Verzweifelte Szenen an der Mauer
Überall versuchen Ost-Berliner, im letzten Moment doch noch in den Westen zu gelangen. An vielen Stellen liegen Häuser direkt an der Zonengrenze - das Haus steht in der DDR, die Straße liegt in der Bundesrepublik. Dort springen zu allem entschlossene Menschen aus dem Fenster aufs westdeutsche Pflaster, die West-Berliner bilden Trupps mit Sprungtüchern. An anderer Stelle springen die Menschen über die noch unfertigen Stacheldrahtverhaue - so wie der junge Grenzsoldat Conrad Schumann. Der Neunzehnjährige sollte eigentlich die Grenze schützen, nutzt jedoch einen unbeobachteten Moment und springt in voller Uniform über die Grenze in die Freiheit. Ein Westberliner schießt von dieser Flucht das wohl berühmteste Bild des Mauerbaus.
Bis zum Abend jedoch stehen die ersten, provisorischen Grenzbefestigungen, und die Situation beiderseits der Grenze ist unter Kontrolle. Die SED frohlockt, alles ist glänzend gelaufen, und auch die Westmächte scheinen sich mit der Situation abzufinden. Ulbricht, der Diktator, ist strahlender Laune - und hochzufrieden mit Honecker, der ab sofort sein heimlicher Kronprinz ist. Am nächsten Tag wird Kanzler Adenauer seine Westdeutschen zu Besonnenheit aufrufen. Die westdeutsche Führungsriege akzeptiert die Mauer als notwendiges Übel. Es gibt nur wenige Ausnahmen, wie zum Beispiel Willy Brandt, der Berliner Oberbürgermeister, der wutentbrannt den alliierten Stadtkommandeuren vorwirft, sie hätten sich "von Ulbricht in den Hintern treten lassen".
Die SED hat gewonnen, die Grenze ist gesichert. Dass die Diktatur sich mit der Aktion jedoch selbst das Verfallsdatum ausgestellt hat, ahnt da noch keiner. Die eingesperrten DDR-Bürger können lange unter Kontrolle gehalten werden, aber nicht für immer. Am Ende wird die DDR sich selbst befreien.
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Der Spitzelstaaat
IM, Inoffizieller Mitarbeiter, eine amtliche Bezeichnung, ein Synonym für einen Überwachungsstaat, der bisher seinesgleichen sucht. Das Ministerium für Staatssicherheit der DDR, kurz MfS, beschäftigt gegen Ende etwa 100.000 solcher IMs, Spitzel, die Kollegen, Freunde, Familienangehörige ausspionieren sollten. Zusammen mit den knapp 90.000 hauptamtlichen Angehörigen des MfS waren damit fast zwei Prozent der Bevölkerung betraut, den Rest unter Kontrolle zu halten. Doch woher kommt diese Angst der DDR-Führung vor den eigenen Bürgern?
Die Angst vor dem eigenen Volk
17. Juni 1953: aus Protesten gegen eine Erhöhung der Arbeitsnormen entwickeln sich in der gesamten DDR Proteste, die rasch an Schärfe zunehmen. Überall im Land legen die Menschen die Arbeit nieder, in vielen Orten besetzen die Arbeiter offizielle Gebäude und Einrichtungen. Es werden Gefängnisse und Polizeistationen gestürmt, wo die Besetzung nicht gelingt, kommt es zu belagerungsartigen Zuständen. Die spontanen Aktionen haben kein Ziel, die spontanen Ausschreitungen sind ein Ventil für die Unzufriedenheit der Menschen. Die DDR-Führung muss nach Karlshorst in das Hauptquartier der Sowjet-Streitkräfte fliehen. Diktator Ulbricht bittet den großen Bruder um Hilfe. Der greift entschlossen durch. Das Kriegsrecht wird ausgerufen, überall im Land fahren Panzer auf. Unter dem Eindruck der massiven Militärpräsenz bricht der Aufstand schnell wieder zusammen.
Ulbricht und das Politbüro können die Ereignisse des 17. Juni jedoch nicht vergessen. Um ein Haar hätte das Volk die Diktatur gestürzt. Die Männer können sich gut vorstellen, welches Schicksal ihnen in diesem Fall geblüht hätte - und das wollen sie verhindern, ein für alle Mal. Das damals bereits existierende MfS erschien ihnen jedoch zunächst nicht das geeignete Mittel dafür zu sein. Im Zuge einer Strafaktion nach den Aufständen verliert die Einrichtung ihren Status als vollwertiges Ministerium. Nur zwei Jahre später greift das Politbüro jedoch wieder auf die Geheimpolizei zurück und stellt den vollen Status der Staatssicherheit als Ministerium wieder her - und findet schnell den richtigen Mann fürs Grobe.
Schwert und Schild der Partei
1957 übernimmt Erich Mielke die Leitung des MfS, und der weiß, wie man mit "Klassenfeinden" fertig wird. 1931 hatte Mielke als treuer Soldat der KPD zwei Polizisten der verhassten Weimarer Republik erschossen, später kämpfte er im spanischen Bürgerkrieg gegen die Faschisten. Direkt nach dem Krieg kehrt er direkt in die sowjetisch besetzte Zone nach Deutschland zurück, und macht dort Karriere - ausgerechnet in den Sicherheitskräften, erst als Verantwortlicher für Polizei und Justiz im Zentralkomitee, dann als zweiter Mann in den Vorläufer-Organisationen des MfS. Und nun ist er Chef - der Polizistenmörder als oberster Geheimpolizist der DDR.
Unter seiner Leitung wird das Ministerium zum "Schwert und Schild der Partei" und stößt wie eine Krake in sämtliche Bereiche des gesellschaftlichen Lebens vor. Die "Stasi" wird bald zum Synonym der umfassenden Überwachung der Menschen. IMs werden in immer größerer Zahl angeworben, um auch in Kreise vorzudringen, in die hauptamtliche Stasi-Leute nicht gelangen konnten: Dissidenten, Intellektuelle, die Kirche. Volle Kontrolle als Versicherung gegen Umsturzversuche - ganz nach dem Geschmack des Politbüros.
Kontrollapparat mit allen Mitteln
Zu der Kontrolle der eigenen Bevölkerung findet die Stasi früh Gefallen an industriellen Methoden in ganz großem Stil. So wird schnell der gesamte Briefverkehr zwischen DDR-Bürgern und Angehörigen im Westen maschinell geöffnet und kontrolliert - spezielle Maschinen öffnen die Briefe und verkleben sie wieder spurlos, zwischendrin werden die Briefe auf gefährliches Gedankengut und Devisen geprüft. Wer das Falsche denkt, wandert in den Knast, und die Devisen wandern in den Staatshaushalt der immer klammeren DDR.
Schnell unterhält die Stasi auch eigene Untersuchungsgefängnisse - denn die Feinde der sozialistischen Ordnung müssen schließlich auch zu Aussagen gebracht werden. Bis 1989 verschwinden hunderte Kritiker des Systems unter fadenscheinigen Gründen in Gefängnissen wie Hohenschönhausen in Berlin. Dort ist zwar körperliche Folter selten, der psychische Druck jedoch umso höher. Denn gespitzelt wird auch im Knast, die Häftlinge werden konsequent ausgespielt - die eingemauerte "Spitzelhölle" im Kleinen als perverse Steigerung der Spitzelei im eingemauerten Arbeiterparadies DDR.
Menschenverachtung an der Tagesordnung
Unter größeren Gewissensbissen haben die Stasi-Oberen dabei nicht zu leiden. 1981 macht Mielke auf einer Sitzung der Führungsriege unmissverständlich klar, was mit denen zu geschehen habe, die das System der DDR ablehnen: "Kurzer Prozess. Weil ich ein Humanist bin. Deshalb habe ich solche Auffassung. […] Das ganze Geschwafel von wegen nicht Hinrichtung und nicht Todesurteil – alles Käse, Genossen. Hinrichten, wenn notwendig auch ohne Gerichtsurteil." Für Republikflüchtlinge, die diese humanistischen Verhältnisse hinter sich lassen wollten, hatte Mielke ähnlich viel übrig: "Ich will euch überhaupt mal etwas sagen Genossen, wenn man schon schießt dann muss man dat so machen, dass nicht der Betreffene noch bei wegkommt sondern dann muss er eben dableiben bei uns. Ja so ist die Sache, wat is denn das, 70 Schuß loszuballern und der rennt nach drüben und die machen ne Riesenkampagne." Menschenverachtung ist an der Tagesordnung in der Institution, die die höchste Wächterin der Staatsordnung in der DDR sein will.
Das Aushängeschild der Stasi ist daher ausgerechnet die Abteilung mit der klandestinsten Tätigkeit - die Hauptverwaltung Aufklärung unter Markus Wolf. Die bespitzelt nicht die eigene Bevölkerung sondern den Klassenfeind auf dessen eigenem Gebiet. Und das so effektiv, dass noch heute westliche Dienste mit Hochachtung von der Arbeit der roten Spione sprechen. Bis zum Ende der DDR unterhielt die HV A ein breites Informanten-Netzwerk im Westen, nicht selten an den sensibelsten Punkten der Bundesrepublik.
Spionage-Erfolge im Ausland
So konnte die HV A unter anderem Agenten bei der NATO, im Bundesnachrichtendienst oder im Verfassungsschutz platzieren. Den berühmtesten Coup landete Wolfs Abteilung jedoch mit der Platzierung eines Agenten im direkten Umfeld eines Bundeskanzlers. Günter Guillome, der Berater von Kanzler Willy Brandt wurde, liefert zwar nie so hochkarätige Informationen wie etwa NATO-Spion "Topas" - als er jedoch enttarnt wird und damit die Öffentlichkeit erfährt, dass die Stasi bis in die Machtzentrale der Bundesrepublik vordringen kann, verschafft Guillome der Spitzeltruppe ihren größten PR-Erfolg. Die Stasi ist fortan auch in der Bundesrepublik berüchtigt.
In der DDR bildet die Stasi derweil immer mehr einen Staat im Staate, eine Parallelgesellschaft, die allerdings stets unter fester Kontrolle des Politbüros bleibt. Sowohl Ulbricht als auch sein Nachfolger Erich Honecker können fest auf Mielke und seine Truppe zählen. Dafür bekommt der mittlerweile unglaublich aufgeblähte Apparat des MfS für seine verschiedenen Hauptverwaltungen und Unterabteilungen ein Hauptquartier von den Ausmaßen eines kleinen Stadtviertels. In Berlin-Lichtenberg schottet sich der Geheimdienst hermetisch ab, mit eigenem Krankenhaus, einer juristischen Hochschule und einem Devisenshop, in dem sich allerlei Köstlichkeiten aus dem Westen kaufen kann. Judaslohn eben.
Böse Geister mit Lachen austreiben
Die Bevölkerung fürchtet und hasst die Stasi. Niemand weiß, wer ein Informant sein könnte, und allein diese Angst hält lange Zeit jeden Unmut im Zaum. Niemand möchte ins Visier von Mielkes Truppe geraten. Bekannte Staatskritiker haben dabei ihre ganz eigene Art, mit der Überwachung umzugehen - in Dissidentenkreisen wird bei Telefongesprächen gerne auch mal vergnügt der Stasi-Mann am Abhörgerät gegrüßt. Doch so perfekt der Spitzelapparat mit den Jahren wird, so ausgefeilt die Unterdrückungsmethoden sind, am Ende kann auch die mächtige Stasi nicht verhindern, dass die Unterdrückten sich letztlich wehren. Als Ende der achtziger Jahre die Menschen auf die Straße strömen und Veränderungen formen, können auch all die IMs die Entwicklung nicht mehr aufhalten.
Und so findet sich schließlich der gnadenlose "Humanist" vor einer freigewählten Volkskammer wieder, wo er stammelnd versucht, seine Arbeit zu rechtfertigen und den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. "Ich liebe – Ich liebe doch alle – alle Menschen", faselt der Geheimpolizist. "Na ich liebe doch – Ich setzte mich doch dafür ein!" Zum ersten Mal ist der gefürchtete Mann Gelächter ausgesetzt - die DDR treibt ihren bösen Geist mit Lachen aus.
Nur kurze Zeit später gehört die Stasi der Vergangenheit an, zusammen mit dem Staat und der Partei, die zu verteidigen sie angetreten war. Der größte Überwachungsapparat der deutschen Geschichte war besiegt worden - von der ersten friedlichen Revolution auf deutschem Boden, ganz ohne die Gewalt, vor der sie sich immer gefürchtet hatte. Dem gewaltlosen Widerstand hatte die Stasi letztlich nichts entgegenzusetzen - von all ihren Mikrofonen und Agenten unbemerkt war sie von der Geschichte überholt worden.
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Die friedliche Revolution
März 1985: der Anfang vom Ende des eisernen Vorhangs beginnt mit einem Machtwechsel. In Moskau wird der ehemalige Provinzfunktionär Michail Gorbatschow zum Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Der neue starke Mann der Sowjets ist allerdings kein Betonkopf wie seine Vorgänger - Gorbatschow hat die Gerontokraten der Kommunisten aufs Kreuz gelegt.
Denn der Mann ist ein Reformer, mehr noch, im Gegensatz zu den alten Männern, die an der Macht kleben, ist er das, was man einen echten Kommunisten nennen könnte: er interessiert sich für das Wohl des Volkes. Und weil er ein Kommunist ist, versucht er, ihn zu retten, indem er ihn den Problemen der Menschen anpasst. Überleben durch Veränderung, wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.
Den Kommunismus durch Reformen retten
Gorbatschow sieht, dass die Systeme in der UdSSR und ihren Satellitenstaaten nur noch durch Unterdrückung aufrechterhalten werden können. Überall sind über brutale Geheimpolizeien entstanden, von denen die brutalste wohl die rumänische "Sekuritate", die größte und paranoideste aber sicher die Staatssicherheit der DDR war. Ihr einziger Zweck: die Machthaber vor dem eigenen Volk zu schützen. Für Gorbatschow ist diese Situation unhaltbar. Auch er will dem Sozialismus die Macht erhalten, aber nicht um jeden Preis.
Deshalb setzt er der Unterdrückung zwei neue Konzepte entgegen, Perestroika und Glasnost. Das eine heißt "Umstrukturierung" und kündigt tiefgreifende Veränderungen in den Betonsystemen des Ostens an. Das andere heißt "Offenheit", und soll nichts weniger werden als Meinungsfreiheit für die geknebelten Untertanen im sowjetischen Einflussbereich. Gorbatschow plant nichts Geringeres als eine Revolution. Sein erster Schritt: 1988 verabschiedet er sich von der "Breschnew-Doktrin" und gestattet "sozialistischen Bruderstaaten" eine eigene Interpretation des Kommunismus, auch, wenn dies Demokratie bedeuten sollte.
Die Diktatoren sperren sich
Den Mächtigen in diesen Bruderstaaten gefällt der Neue Kurs jedoch kein bisschen. Und so reagieren die Partei- und Staatschefs in Polen, Rumänien oder der DDR ziemlich humorlos, als sie von den Kapriolen des Russen erfahren. Vor allem die DDR ist verschnupft. Das Politbüro sieht sich seit Ulbrichts Zeiten im "Schützengraben" des Kalten Krieges, altersschwache Kämpfer an der vordersten Front des Sozialismus. Die Mitglieder waren zum größten Teil noch unter Stalin in Moskau ideologisch geschult worden, und so etwas hält ein Leben lang. Gerade Erich Honecker, der Staatschef der Ostdeutschen, sieht sich immer mehr als wahren kalten Krieger - schließlich hatte er für Ulbricht die Mauer gebaut und damit den vermeintlich größten Sieg der SED-Diktatur eingefahren. Demokratie oder Meinungsfreiheit kann er in seinem Kampf gegen den Kapitalismus nicht gebrauchen.
Also geht man erstmal auf Distanz zur Sowjetunion. Die Abdrucke von Gorbatschows immer liberaleren Reden werden zensiert, die sowjetische Monatszeitschrift "Sputnik" und einige andere Magazine werden zwischenzeitlich verboten. Der Funktionär Kurt Hager versteigt sich in einem Interview mit dem westdeutschen Stern sogar zu sowjetkritischen Anspielungen. Auf die Frage, ob die DDR den Reformen in Moskau folgen würde, antwortet Hager süffisant: "Würden Sie, wenn Ihr Nachbar seine Wohnung neu tapeziert, sich verpflichtet fühlen, Ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren?" Es ist Paradox: vierzig Jahre, nachdem Stalin Osteuropa unter seinen Einfluss gezwungen hat, sind es gerade die Führer dieser Länder, die nun das Erbe des übermächtigen Diktators hochhalten wollen.
Hoffnung wächst im Osten
Doch die Völker, die die greisen Diktatoren unmündig halten wollen, hören den Ruf Gorbatschows sehr wohl. Vor allem in der DDR wird der Generalsekretär wie ein Volksheld verehrt, Gorbi nennen sie ihn. Er, so ihre große Hoffnung, könnte vielleicht endlich den Eisernen Vorhang um ihr Land lockern. Da kommen Äußerungen wie die Hagers gar nicht gut an, und der Zorn der Eingesperrten wächst. Und mit ihm ihr Mut, dem System die Stirn zu bieten.
Am 17. Januar 1988 kommt es zu den ersten offenen Protesten gegen das Regime. Während der alljährlichen Gedenkdemonstration für Rosa Luxemburg nutzen einige Unzufriedene die alten Phrasen des Systems für sich und entrollen ein Transparent mit einem Luxemburg-Zitat: "Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden". Das Reizwort Freiheit ruft die Sicherheitskräfte auf den Plan, vor den laufenden Kameras westlicher Journalisten werden zahlreiche Demonstranten verhaftet.
Friedlicher Widerstand
Die Protestierenden sind Mitglieder der neu formierten Friedensbewegung in der DDR, die für friedliche Reformen Freiheit eintreten will. Darauf muss das Regime antworten, und das tut es mit den ganz alten Reflexen. Eine Verhaftungswelle soll die Bewegung zerschlagen. Doch das Regime hat nicht mit der Entschlossenheit seines Volkes gerechnet - die Perestroika hat den Menschen mehr Hoffnung gegeben, als Honecker und die Greise an der Spitze sich eingestehen mögen. Überall im Land kommt es zu Solidaritätskundgebungen.
Im Mai kommt es zur nächsten Macht zwischen Volk und Diktatur. Bei der Kommunalwahl steht wie immer nur die Kandidaten der SED zur Wahl - während in Russland bereits verschiedene Kandidaten und Richtungen zugelassen sind. Als dann die SED-Riege mit knapp 99 Prozent siegt, schlägt erneut die Stunde der Regimegegner, sie können erstmals in der DDR-Geschichte Manipulationen nachweisen. Erneut kontert die Führung mit Gewalt - die folgenden Proteste gegen den Betrug werden von NVA und MfS aufgelöst. Doch das Volk schlägt nicht zurück - gewaltloser Wiederstand ist ihre Devise, und gegen den schlägt kein Volksarmist gerne los. DDR-Chef Honecker beweist in dieser Situation kolossales Unverständnis für die Anliegen des Volkes. Unbeirrt ruft der alte Mann in die Volkskammer: "Den Sozialismus in seinem Lauf, hält weder Ochs noch Esel auf".
Die Menschen wählen mit den Füßen
Kurz nach dem Wahlskandal kommen die Proteste für eine Weile zum Erliegen - allerdings nicht, weil die Gewalt gesiegt hätte. Gebannt blickt die Nation nach Ungarn. Die dortige Regierung hat die neue Selbstbestimmung dazu genutzt, die Grenzanlagen zu Österreich abzubauen. Der Balkan erscheint den DDR-Bürgern nun als Fluchtweg in den goldenen Westen, und deshalb wählen die nun mit den Füßen. Hunderte versuchen den Weg über Ungarn, andere flüchten sich während des Sommerurlaubs in die bundesdeutschen Botschaften in Budapest, Prag und Warschau. Wochen zähen Wartens und Verhandelns beginnen. Der Westen erkennt seine Chance, und bearbeitet die völlig überforderte DDR-Führung. Am Ende gibt das Politbüro nach - am 23. August kann Bundesaußenminister Genscher den jubelnden Botschaftsbesetzern in Budapest die Ausreise nach Westdeutschland verkünden. Am 30. September folgen ihnen die Flüchtlinge aus den anderen Botschaften. Die Züge der Befreiten durchfahren auf ihrem Weg auch das Gebiet der DDR, und auf den Bahnhöfen kommt es zu dramatischen Szenen. In Dresden versuchen Menschen, auf den fahrenden Zug aufzuspringen
Für die Daheimgebliebenen geht der Kampf um die Freiheit indes weiter. Am 4. September 1989 finden sich in Leipzig nach dem Friedensgebet Menschen auf dem Platz vor der Nikolaikirche zusammen. Sie tragen ein paar Transparente, die - unter dem Eindruck der Massenflucht - vor allem Reisefreiheit fordern. Es ist Montag, und an diesem 4. September wird eine Tradition geboren, die am Ende die DDR stürzen wird: die Montagsdemonstrationen. Von nun an kommen jeden Montag Menschen zum Friedensgebet, um danach zu protestieren, und es werden immer mehr.
Denn der Termin der Demonstrationen ist geschickt gewählt. Die Gebete, zunächst in der Nikolaikirche, dann in drei weiteren Kirchen in der Leipziger Innenstadt beginnen um 17 Uhr. Diese Zeit erlaubt einerseits, an Gebet und Demonstration teilzunehmen, ohne der Arbeit fernzubleiben, liegt aber auch vor dem Ladenschluss, weshalb sich stets ein Alibi vor den Sicherheitskräften finden lässt. Man will so unverdächtig wie möglich erscheinen.
Die Menschen nehmen sich ihre Freiheit
Am 9. Oktober ist aus dem Häuflein Demonstranten ein Zug von 70.000 Menschen geworden. Abgestellte Sicherheitskräfte und Armeeeinheiten beobachten die Menge argwöhnisch. Doch die Menschen machen kein Anstalten, gewalttätig zu werden. Es gibt keine Konfrontation, keine Straßenschlacht wie am 17. Juni 1952. Stattdessen rufen die Leute Parolen wie "Keine Gewalt!" und immer wieder "Wir sind das Volk!" Und die Armee hält still. Die Unterdrückten knacken die Diktatur mit ihrem totalen Pazifismus.
Der Mut der Demonstranten ist unglaublich - in China waren ähnliche Kundgebungen nur wenige Wochen zuvor blutig niedergeschlagen worden. Die Bilder vom "Platz des himmlischen Friedens" konnten auch vor den DDR-Bürgern nicht verboten werden. Am 16. Oktober sind es dann auch schon 160.000 Protestierende, eine Woche später bereits 320.000. Aus kleinen Demos ist eine Massenbewegung entstanden, gegen die auch die SED-Führung kein Mittel mehr hat. Panzer kann sie nicht mehr einsetzen - Gorbatschow hat der Gewalt bereits eine klare Absage erteilt - und wahrscheinlich wären große Teile der Sicherheitskräfte dem Befehl gar nicht mehr gefolgt.
Die friedliche Revolution ist in vollem Gange, und zwingt der Diktatur ihren Willen auf. Im Schatten der Demonstrationen sind bereits die ersten demokratischen Gruppierungen und Parteien entstanden, wie das "Neue Forum", die SDP oder das Bündnis '90. Die Entwicklung überholt die greise SED-Führung. Die demokratischen Strukturen, die Meinungsfreiheit, die "Perestroika" und "Glasnost" ihnen gewähren sollten - die Menschen haben sie sich einfach genommen. Ohne einen einzigen Stein zu werfen.
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Das deutsche Jahr
Ost-Berlin, Oktober 1989. Die DDR ist ein sterbender Staat. Die meisten Bürger haben ihm bereits die innere Kündigung ausgesprochen, viele hauen ab in den Westen, sobald sich die Gelegenheit bietet. Dennoch feiert der real existierende Sozialismus seinen 40. Geburtstag - mit allem Pomp, den Diktaturen zu bieten haben, und den üblichen, endlosen Militärparaden. Die greisen Führer im Politbüro haben jeden Kontakt zur Realität verloren.
Illusionen vom Sozialismus
Damit die ihre schönen Illusionen vom Sozialismus behalten können, den weder Ochs noch Esel aufhalten, werden die Proteste, die überall im Lande gären, von den Sicherheitskräften mit aller Macht von den Feierlichkeiten ferngehalten. Doch den größten aller Revolutionäre des Ostblocks kann die Stasi nicht kassieren - denn der ist Ehrengast und sitzt auf der Tribüne.
Und Michail Gorbatschow sagt DDR-Chef Honecker gleich auf dem Flughafen beim Bruderkuss die Meinung: Wer zu spät komme, so Gorbatschow zu Betonkopf Honecker, den bestrafe eben das Leben. Sollte der Diktator gegen die Demonstranten in der DDR vorgehen wollen, müsse er auf Panzer aus Moskau verzichten. Honecker steht alleine da.
Wie allein, das merkt der gebürtige Saarländer allerdings erst einige Tage später. Am 18. Oktober muss er feststellen, dass ihn auch seine Kumpane im Politbüro im Stich gelassen haben, man fordert ihn zum Rücktritt von allen Ämtern auf. Die wollen ihren Staatschef opfern, um dem Volk ein Bauernopfer anzubieten und den eigenen Stuhl zu retten. Jetzt soll es der junge Egon Krenz richten, der mit 52 Jahren allerdings auch nicht mehr taufrisch ist. Zusammen mit dem SED-Politiker und erklärtem Reformer Hans Modrow, der Ministerpräsident wird, soll Krenz die Aufrührer wie brave Schäfchen zurück in die Herde des Sozialismus treiben. "Mit der heutigen Tagung werden wir eine Wende einleiten," weckt der neue Chef denn auch die Hoffnungen der Altsozialisten, "werden wir vor allem die politische und ideologische Offensive wieder erlangen."
"Großmutter, warum hast du so große Zähne?"
Nur das Volk macht da nicht mit. Schnell tragen die Umworbenen Plakate mit Karikaturen von Krenz, die ihn als den Wolf aus Rotkäppchen zeigen: "Großmutter, warum hast du so große Zähne?" Die Menschen trauen dem Neuen nicht, da hilft auch Modrow an seiner Seite nichts, dem während der Montagsdemonstrationen noch so gut der Dialog mit den Bürger- rechtlern gelungen war. Schließlich hatte Krenz bei den aufgedeckten Wahlfälschungen bei den Kommunalwahlen in der DDR als Wahlleiter kräftig mitgemischt - und zu der blutigen Niederschlagung der Studenten- proteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking bemerkte er nur nüchtern "es sei etwas getan worden, um die Ordnung wiederherzustellen".
Für die Demonstranten ist Krenz also nur der nächste verlogene Funktionär. Längst haben sie sich den neuen, politischen Alternativen anvertraut, von der die einflußreichste das "Neue Forum" ist. Das Forum ist seit den ersten Tagen der Proteste aktiv und mit den Montags- demonstrationen groß geworden. Sein Vorteil ist, dass es im Gegensatz zu den anderen politischen Gruppierungen wie der Frauenbewegung oder der grünen Splitterparteien keine politische Agenda hat, abgesehen von der Überzeugung, dass sich die Verhältnisse in der DDR drastisch ändern müssen. Reisefreiheit, freie Rede, Menschenrechte, das sind Ziele, mit denen sich jeder der Demonstranten identifizieren kann.
Dem Politbüro läuft die Zeit davon
Bald überholen die Ereignisse jedoch jede politische Initiative. Am 3. November öffnet die Tschecheslowakei ihre Grenzen, DDR-Bürger können plötzlich über den sozialistischen Bruderstaat ohne Formalitäten in den Westen ausreisen. Es kommt zu einer neuen Fluchtwelle. Am 4. November versammeln sich auf dem Alexanderplatz in Berlin über eine Million Menschen zu der größten Demonstration, die die DDR je gesehen hat, und fordern immer vehementer ihre Freiheit. Das Fernsehen berichtet live, und wer nicht in Berlin sein kann verfolgt gebannt die Ereignisse.
Auch das Politbüro, in dem es immer verzweifelter zugeht. Den alten Männern läuft die Zeit davon, und sie wissen es. In langen Nächten versuchen sie, irgendwie eine Lösung zu finden, die die Menschen von der Straße und sie an der Macht erhält. Aber Konzessionen wie sie die Demonstrationen fordern kommen für das Politbüro nicht in Frage. Eines ist den Männern jedoch klar - die Krise ist nicht ohne grundlegende Zugeständnisse beizulegen. Entweder erhalten die Menschen die herbeigesehnte Reisefreiheit, oder der Staat fliegt auseinander. Also beschließt man eine kleine Revolution: ab dem 10. November, 4 Uhr früh sollten an einigen wenigen Grenzübergängen Ausreisewillige kontrolliert das Land verlassen dürfen - bei gleichzeitiger Ausbürgerung aus der DDR.
Am Abend des 9. Novembers soll der Beschluss auf einer Live-Pressekonferenz verkündet werden. Elektrisiert sehen die Menschen, wie die Vertreter des neuen Politbüros die Bühne betreten. Um 18:57 Uhr verliest ein komplett übermüdeter Günter Schabowski vor laufenden Kameras, dass sofort und unverzüglich Privatreisen ins „Ausland“ ohne Vorliegen von Voraussetzungen wie Reiseanlässe und Verwandtschafts- verhältnisse beantragt werden könnten. Die Genehmigungen würden kurzfristig erteilt. Ausreisen können über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur Bundesrepublik erfolgen. Schabowski hatte sich verlesen, ein unverzügliches Inkrafttreten des Beschlusses war zu keiner Zeit geplant. Doch der übernächtigte Schabowski bestätigt auch auf Nachfrage: ""Das tritt nach meiner Kenntnis... ist das sofort, unverzüglich."
Die Grenze wird gestürmt
Die Menschen trauen ihren Ohren kaum - zögern jedoch keine Minute. Überall im Land machen sich die Menschen auf den Weg zu den Grenzübergängen, die meisten natürlich in Berlin. Die Grenztruppen sind darauf nicht vorbereitet, keiner hat ihnen gesagt, was sie tun sollen. Angesichts des Ansturms von Leuten und der Fernsehübertragung bleibt ihnen nur eins übrig - sie lassen die Menschen vorbei. Damit ist die Grenze offen. Die Stempel für die geplante Ausbürgerung bleiben in den Schränken, die Leute strömen hinüber in den Westen. Nicht aber, um zu fliehen. Die meisten wollen einfach nur frei zwischen den beiden Staaten verkehren können. Republikflucht, das Verlassen der Heimat, liegt den meisten fern.
Überall an den Grenzen kommt es zu ergreifenden Szenen. Tausende West-Berliner haben ebenfalls aus dem Fernsehen von der Grenzöffnung erfahren und sind zur Mauer geeilt, um die Ost-Berliner zu begrüßen. Es wird gefeiert, wildfremde Menschen liegen sich ausgelassen in den Armen. Überall werden Fahnen geschwenkt, ein Meer aus Schwarz-Rot-Gold. Niemand kann das unglaubliche Glück dieser Nacht fassen. Die Mauer, dieses menschenverachtende Bollwerk, ist nach knapp dreißig Jahren durchbrochen worden.
Irgendwann fällt jede Mauer
Und in dieser Stimmung erklimmen die Menschen die Mauer am Brandenburger Tor. Dort ist die Sperranlage mehr als meterdick, man kann bequem darauf stehen. Die vereinten Berliner tanzen, und bei den Grenztruppen denkt keiner daran, auf sie zu schießen. An manchen Stellen beginnen die Leute damit, die Grenzanlagen mit Meißeln zu bearbeiten und versuchen, das verhasste Bauwerk direkt einzureißen. Das scheitert zwar, aber an diesem Abend hat das Ende des eisernen Vorhangs begonnen.
Natürlich versucht die SED noch einmal, ihre Pfründe zu sichern, Grenzsoldaten beziehen zum Beispiel Stellung auf der Mauer am Brandenburger Tor, um die Leute vom Betreten abzuhalten. Doch in der allgemeinen Aufbruchsstimmung kann auch das Politbüro sich nicht mehr halten. Die Nachfolger öffnen daraufhin weitere, provisorische Grenz- übergänge, die in die Mauer gebrochen werden. Und nur wenige Wochen später, die DDR hat mittlerweile eine demokratisch gewählte Regierung, ziehen überall Bautrupps auf, West-THW und Pioniere der NVA, und gemeinsam bauen sie die unmenschlichen Grenzbauten ab. Die Mauer ist gefallen, nicht durch Panzer oder Krieg, sondern durch den Freiheitswillen der Menschen. Nun ist der Weg frei für die Einheit der beiden deutschen Staaten, die so lange getrennt waren.
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Ein Volk wächst zusammen
Am 12. April 1990 steht Lothar de Maizière vor der Volkskammer und kann es eigentlich kaum glauben. Er ist der erste frei gewählte Staatschef der Deutschen Demokratischen Republik, 265 Stimmen haben ihn soeben zum Ministerpräsidenten eines befreiten Landes gemacht.
Vor ihm und seinem Kabinett, das die Abgeordneten soeben gleich mit bestätigt haben, liegen schwere Zeiten. Zwar ist die Mauer gefallen, zwar ist die SED-Diktatur Vergangenheit, doch gilt es, die Zukunft eines Landes zu gestalten, das sich zutiefst im Umbruch befindet. Die Vergangenheit muss bewältigt werden, und keiner weiß, was mit der deutschen Teilung geschehen soll.
"Wir sind ein Volk!"
Auf der Straße schein der Weg schon vorgezeichnet. Seit Januar skandieren dieselben Menschen, die mit ihrem Ruf "Wir sind das Volk" die Unterdrückung beendet haben, ganz neue Slogans. Die Montagsdemon- stranten, die nach wie vor durch Leipzig und andere ostdeutsche Städte ziehen, zitieren die Hymne der DDR und rufen den neuen politischen Führern "Deutschland einig Vaterland" entgegen, oder aber "Wir sind EIN Volk!" Für die Menschen ist ein geeintes Deutschland nur eine Frage der Zeit - und die sollte nicht zu lang sein.
Für die Politik ist die Sache jedoch nicht so einfach. Ein Land lässt sich nicht so einfach fusionieren: die Staatsrechtler wissen nicht, ob es einen neuen Staat geben wird, oder ob die DDR einfach der Bundesrepublik beitreten soll. Die Politiker im Osten fürchten, dass ihr Land von "denen im Westen" einfach geschluckt wird, die Spitzen der Bundesrepublik hingegen zögern grundsätzlich. Denn sie wissen um die Bedenken der Nachbarn, dort hat man Angst vor einem vereinten Deutschland, damit verbindet man zu viele schlechte Erfahrungen.
Das Gleichgewicht der Mächte
Die Briten etwa fürchten um das Gleichgewicht der Mächte auf dem Kontinent. Das Königreich sieht in dieser "Balance of Power" die einzige Möglichkeit, das Entstehen einer Hegemonialmacht zu verhindern - und die vereinigten Deutschen mit ihrer ohnehin schon übermächtigen Wirtschaft könnten die neue dominierende Nation werden. Die Franzosen andererseits wollen ihre eigene Vormachtstellung in Europa nicht verlieren. Mit einem starken, wiedervereinigten Deutschland in der Mitte Europas und den sich nach Westen orientierenden ehemaligen Ostblockstaaten würde Paris an den Rand gedrückt. Für die Franzosen ein unerträglicher Gedanke - das alte Bonmot des Romanciers Francois Mauriac wird zum vielzitierten Motte der Grande Nation in diesen Tagen: "Ich liebe Deutschland so sehr, dass ich zufrieden bin, dass es davon zwei gibt."
Entschieden aber wird das Schicksal zwischen den beiden Supermächten USA und Sowjetunion - denn nach wie vor sind die Deutschen ein Spiel- ball der Interessen. Für die Amerikaner ist die Sache klar, Deutschland muss wieder ein Land werden, sofern das Volk dies wünsche. Bereits am 12. Juni 1987 hatte der damalige US-Präsident Ronald Reagan im Angesicht der Berliner Mauer gefordert: "Come here to this gate! Mr. Gorbachev, open this gate! Mr. Gorbachev, tear down this wall!" Alles weitere liege gemäß dem Selbstbestimmungsrecht der Völker bei den Deutschen - mit einer Bedingung: ein vereintes Deutschland müsse Mitglied der NATO und der EG sein.
Genau dagegen sträuben sich aber die Sowjets, Gobatschow will ein blockfreies Deutschland durchsetzen. Demokratische Reformen und Freiheit der DDR, schön und gut, aber Gesamtdeutschland unter der Fuchtel der Amerikaner? Das schmeckt ihm dann doch nicht, und so warnt "Gorbi", der Held der Wende und Idol der Ostdeutschen, die beiden deutschen Staaten vor einem Alleingang.
Geschicktes Verhandeln um die Einheit
Bundeskanzler Helmut Kohl versucht deshalb auch zunächst, es Allen recht zu machen. Bereits am 28. November 1989 hatte Kohl dem Deutschen Bundestag einen Zehn-Punkte-Plan zur Wiedererlangung der deutschen Einheit vorgelegt. Darin schlägt er die Bildung einer lockeren "Konföderation" zwischen der Bundesrepublik und der DDR vor - und die sollte erst im Zuge des europäischen Integrationsprozesses langsam zu einem Staat zusammenwachsen. Den Menschen auf der Straße gefiel diese Vorsicht allerdings nicht. Unter dem Eindruck der Ereignisse während der Wende, als sich Deutsche aus Ost und West jubelnd in den Armen gelegen hatten, kann es für sie nur die staatliche Einheit Deutschlands geben, jetzt und ohne Bedingungen.
Also lotet die Regierung Kohl bei den Siegermächten die Chancen aus, und erkennt die Gunst der Stunde. Denn die Sowjets beginnen zu wackeln, zeichnen sich doch ganz eigene Probleme zu Hause ab. Die ehemaligen Sowjetrepubliken wollen die Unabhängigkeit, da wird die deutsche Frage immer unwichtiger. Die Briten und Franzosen ließen sich mit politischen Konzessionen gefügig machen, so das Kalkül, vor allem dank des unbedingten Rückhalts durch die USA. Deshalb macht Kohl den ehemaligen Besatzern ein unwiderstehliches Angebot: wenn sie grundsätzlich der Vereinigung zustimmten, dürften sie bei den Modalitäten mitreden.
So kommen die Zwei-Plus-Vier-Gespräche zustande, in denen Sieger und Besiegte des Zweiten Weltkriegs über die Zukunft Deutschlands beraten sollen. Bereits am 14. Februar 1990 kommen die Außenminister der beiden deutschen Staaten sowie diejenigen der vier Siegermächte schließlich zusammen. Hauptpunkt der Tagesordnung ist die Sicherheit der deutschen Nachbarn. Die Deutschen erklären sich bereit, die gegenwärtigen Grenzen als endgültig zu akzeptieren - die ehemaligen deutschen Ostgebiete jenseits der Oder sollen nun ganz offiziell zu Polen gehören. In der Frage der Bündniszugehörigkeit bleibt Gobratschow jedoch stur - er verbietet seinem Außenminister Schewardnadse jede Art von Zugeständnis in dieser Angelegenheit.
Mit Strickjacke in den Kaukasus
Die Deutschen, die bereits eine umfassende Währungs- und Sozialunion verhandeln, sehen ihre Felle davon schwimmen. Also beschließt der Kanzler, Gorbatschow persönlich aufzusuchen, Der nimmt ihn mit in den Urlaub in den Kaukasus, dort könne man viel besser beraten. Gorbatschow, den Kohl einst mit Nazi-Propagandaminister Goebbels verglichen hatte, und der deutsche Bundeskanzler, den Gorbatschow wegen eben dieser Äußerung tief verachtet hatte, gehen nun gemeinsam in Strickjacken an russischen Gebirgsflüssen spazieren - und werden dicke Freunde. Und Kohl gelingt es, dem neuen Kumpel ins Gewissen zu reden. Gorbatschow lässt sich überzeugen - ohnehin war er auch im eigenen Umfeld zunehmend wegen seiner harten Haltung unter Druck geraten. Deutschland erlangt in diesen Sommertagen im Kaukasus seine volle Souveränität zurück - und kann nun frei über seine politische Zukunft entscheiden.
Zu Hause strickt derweil die DDR-Regierung unter Lothar de Maizière an den Vorbereitungen für eine Einigung. Schon früh ist klar, dass die Bildung eines ganz neuen Staates nicht durchzusetzen ist. Die DDR befindet sich in einem desolaten Zustand und politisch nicht gefestigt, während abzusehen ist, dass die Bundesrepublik die Kosten der Wiedervereinigung würde tragen müssen. Also beschließt man einen Beitritt Ostdeutschlands zur Bundesrepublik. Westdeutsche Staatsrechtler, die in der Bundesrepublik die einzig legitime Erbin des Deutschen Reiches sehen, nicken das Ganze ab. Die Regierung de Maizière führt daher die von der SED-Diktatur und den Sowjets abgeschafften Länder wieder ein. Diese, so die Idee, könnten dann jedes für sich dem föderalen System der Bundesrepublik beitreten.
Nach der Rückkehr des Bundeskanzlers aus dem Kaukasus setzen sich die beiden CDU-Männer Kohl und Ministerpräsident de Maizière also zusammen, um nun nach der wirtschaftlichen Union auch die politische Einheit auszuhandeln. Die meisten Themen sind Verwaltungsfragen: die Neuregelung der Stimmenverteilung im bald größeren Bundesrat, die Vereinigung der beiden Parlamente zu einem Bundesparlament. Einzige Überraschung der Verhandlungen: Berlin soll die Hauptstadt der vereinten Republik werden, die Abgeordneten beider Landesteile bald im historischen Reichstag sitzen. Die Abmachungen werden im so genannten Einigungsvertrag festgehalten, dessen Ratifizierung nur noch Formsache ist. Am 20. September stimmen die beiden deutschen Parlamente schließlich dem Einigungsvertrag zu: die Volkskammer mit 299 von 380 Stimmen, der Bundestag mit 442 von 492 Stimmen und der Bundesrat einstimmig.
Einigkeit und Recht und Freiheit
Am 3. Oktober schließlich tritt die Vereinigung in Kraft, aus dem geteilten Deutschland ist wieder ein einziges geworden. Willy Brandt, der mit seiner Ostpolitik den Grundstein für diesen Tag gelegt hatte, frohlockt: "Nun wächst zusammen, was zusammen gehört!" Überall in Deutschland feiern die Menschen noch einmal, vor dem Reichstag versammeln sich tausende Deutsche und bejubeln sich und ihr neues, freies Land. Abermals ein Meer aus Schwarz-Rot-Gold, und wieder liegen sich die Menschen in den Armen. Der deutsche Traum ist Wirklichkeit geworden, und für Alles ist es wie im Märchen.
Dass vor diesem Land noch ein steiniger Weg, eine schwierige innere Einigung liegt, wissen diese glücklichen, jubelnden Menschen noch nicht. An diesem einen Tag gibt es keine Jammer-"Ossis" oder arrogante Besser-"Wessis", nur Deutsche. An diesem einen Tag stehen die Deutschen unter einer Fahne, jubeln zu Tausenden, aber vielleicht zum ersten Mal in der deutschen Geschichte nicht als Nationalisten oder begeisterte Krieger. Sie jubeln, weil der Krieg nun endlich, nach vierzig Jahren, wirklich vorüber ist. Sie jubeln, weil endlich Frieden ist, und sie Alle, in einem Land, gemeinsam frei sein dürfen.